Wiesbaden schreibt ein Buch

Unser Projekt „Wiesbaden schreibt ein Buch“ hatten wir im Juni so eingeläutet:

„Wer hätte nicht gern schon immer mal einen spannenden Krimi nicht nur gelesen, sondern auch selbst geschrieben?“

Das haben nun inzwischen 27 Autor*innen dankenswerterweise getan – und gemeinsam „Drei Schwestern, erbberechtigt“ durch etliche Gefahren, Verdächtigungen und unerhörte Ereignisse hindurch geführt, manches Mal auch dabei einen Umweg riskiert, sind aber nie in eine Sackgasse geraten. Da kann man aller kriminalistischen Fantasie nur gratulieren!

Krimi-Folgen hätten noch ein zweites Mal nach der Vorstellung auf dem Literaturfestival öffentlich präsentiert werden sollen. Leider aber ist das von Palast Promotion für den 25.09.2021 geplante Programm auf dem Schlossplatz aufgrund wieder schärferer Corona-Regeln ausgefallen. „Drei Schwestern, erbberechtigt“ hatten eigentlich vor, bis zum Tag danach tapfer durchzuhalten.

Und sie tun das nun in der PDF-Gesamtfassung, die wiederum Sie hier in Gänze lesen können. Damit hat das Projekt des Fördervereins „Eine Stadt schreibt ein Buch“ sein Ende gefunden – Sela,  Psalmenende, oder auch: Finis.

Übrigens: Die drei Schwestern haben überlebt (wenn auch nur in PDF-Form) – und ihr Erbe ebenfalls… Wie? – wäre in der letzten Folge zu erfahren, auf die die Kapitel von Folge 15 an zulaufen, die unten auch im Chat-Format weiterhin zu lesen sind. Vielen Dank allen beteiligten Autor*innen!


Gesamtfassung der Buchkapitel 1–29 (als PDF-Datei): Drei Schwestern, erbberechtigt

 


Viola Bo: Kapitel 15
Armin Conrad

Aber noch war Rogowski – nicht auffindbar“, wurde gesagt. Heiße Spur hin, heiße Spur her, es ging darum, dass Walzer den Überblick behielt. In ihm hatte sich schon länger Unmut gegenüber Gongolf Säbel angestaut. Er wollte die Definitionsmacht über diesen Fall wieder zurück zur Polizei holen. Walzer mochte Säbel eigentlich nicht, zu oft hatte der Reporter mehr und besser ermittelt als Walzers eigene Leute. Auch die KTU kam im „Wiesbadener Kurier“ zunehmend schlecht weg.

Walzer gab sich einen Ruck. Hier wedelte doch – und das seit schon viel zu langer Zeit – der Schwanz mit dem Hund. Wenn jemand Verdächtige verfolgt, dann ist es die Polizei, das gilt doch auch wohl in Wiesbaden, oder? Gongolf Säbel – ein Name, ein Programm. „Man sollte ihm mal ein Filettiermesser schenken“, hatte der Polizeipräsident vor einiger Zeit gesagt. Hatte er das ernst gemeint?

Wir sollten einen anderen Weg einschlagen, dachte sich Walzer und blickte auf die Akten, die seiner Überzeugung nach noch lange keine Mordakten waren, papperlapapp. Was ist denn eigentlich an diesem Notenblatt so wertvoll? Ist es die Urfassung von „Sergeant Peppers Lonely Hearts Club Band“ oder sind es nur die vier Akkorde von „Get Back“? Dass sowas überhaupt versteigert wird. Wer will sich denn sowas rahmen und an die Wand hängen?

Das Café war fast leer. Walzer schaute auf sein Handy. Fünfzehn Uhr, für das erste Piffchen noch etwas zu früh.
Vielleicht müsste man Paul McCartney fragen. Ringo Starr konnte doch gar keine Noten, nur drei Barré-Griffe und Schlagzeug, hatte er irgendwo gelesen. Walzer fingerte nach seinem Handy, er drückte Spotify, Suche: „Y-e-s-t-“, dann McCartneys weichmehlige Stimme … „all my troubles seem so far away“. Walzer drückte es wieder weg. Ein Lied seiner Eltern, seiner Kindheit. George Martin – der Mann, der dachte, er könne seine Unterhaltspflichten in d-Moll begleichen. Aber – alles Spekulation! Vielleicht ist das alles gar nicht echt, und du kannst dir mit dem Notenblatt den Hintern abwischen, dachte der Kommissar. Mord, warum immer gleich Mord? Das sind vielleicht nur Hirngespinste einer von Säbel inszenierten öffentlichen Empörung in dieser so skandalelastischen Stadt, wo Stadträte und Stadtverordnete sich sehr viel erlauben konnten und doch immer noch in Amt und Mandat blieben, murmelte er.

„Das heißt Stadträtinnen, wahlweise mit Sternchen oder Atempause“. Walzer schreckte zusammen. Die junge Frau hatte er vorher nicht bemerkt. Etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, enge Jeans, weiße Bluse, darüber Trenchcoat. Sie musterte Walzer lässig. „Sie sind Kommissar Walzer, ich habe gehört, Sie sind ein guter Polizist. Möchten Sie etwas über Luisa erfahren?“ Walzer erkannte ein Lacoste-Krokodil als Tattoo an ihrem Hals. Wer lässt sich sowas machen?

„Luisa war meine Sprachlehrerin. Ich bin Kunststudentin.“ Luisa hätte sie vor ein paar Wochen gebeten, von einem Notenblatt der Beatles eine originalgetreue Kopie anzufertigen. „Ich zahle mit meiner Kompetenz“, hätte Luisa zu ihr gesagt und ihr fünfzig kostenlose Portugiesisch-Stunden versprochen. „Ach ja. Und wer sind Sie?“ „Und jetzt ist sie tot. Sie hat die Kopie, und ich hab keine Sprachlehrerin mehr. Ich bin Vanessa Liedholm.“






Viola Bo: Kapitel 16
Lutz Schulmann

Vanessa Liedholm war nicht die, für die sie sich ausgab. Wenn Hauptkommissar Walzer tatsächlich so viel Menschenkenntnis gehabt hätte, wie er glaubte und so gerne zur Schau stellte, wäre ihm an der jungen Frau einiges aufgefallen. Allein schon ihre zitternden Hände, als sie in Tillys Café Walz plötzlich vor ihm stand und ihn mit unsicherem Blick anstarrte. Und dann die Geschichte über die angeblich tote Luisa. Schließlich war es gerade einmal ein paar Tage her, dass WK-Reporter Gangolf Säbel die ehemalige Perle von Anna-Maria Schauß und ihren Kumpan Toni Rogowski wider beider Willen in den Blauen Salon der Villa in der Kapellenstraße gestoßen hatte, um beide an seinen Offenbarungen zum „Fall Schauß“ teilhaben zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war die Portugiesin noch quicklebendig gewesen. Zumindest hatte Walzer mit seiner Vermutung recht, dass Vanessa Liedholm von Dingen wusste, die im Moment noch unter der Schicht der bekannten Wahrheit begraben lagen.

Vanessa sprach ein einwandfreies, vollkommen akzentfreies Deutsch, obwohl sie, gebürtige Schwedin, bis zu ihrem 14. Lebensjahr in der Eisenerzstadt Kiruna aufgewachsen war und dort zu keiner Zeit Kontakt zu Deutschsprechenden gehabt hatte, geschweige denn die Sprache in der Schule erlernt hätte. Das änderte sich, nachdem sie während eines Austauschs ihres Lyceums mit dem Mädchen-Gymnasium des Stadtbezirks London Borough of Islington erstmals nach England gekommen war. Hier lernte sie die Malerin Louise Nicklas kennen, die damals als Gästeführerin arbeitete.

„Meine lieben jungen Gäste aus dem hohen Norden“, begrüßte Louise Nicklas die schwedischen Schülerinnen, „ich bin von der Schulbehörde beauftragt worden, Ihnen die interessantesten Ecken dieses Londoner Stadtteils zu zeigen und werde dies mit großer Freude tun.“ Brav und aufmerksam, wie sie erzogen waren, folgten die Schülerinnen der offensichtlich sehr kenntnisreichen Frau durch die schmalen Straßen mit ihren typischen winzigen Vorgärten und den steilen Treppen, die zu engen Türen nicht minder enger Häuser führten. Nach gut anderthalb Stunden „Rechts sehen Sie dies, links sehen Sie das“ stoppte Louise Nicklas vor einem einfachen wiewohl architektonisch nicht uninteressanten Anwesen, das von mehreren uralten Platanen nahezu verdeckt wurde. Nur ein wirklich ortskundiger Mensch würde hier anhalten, um auf das Haus hinzuweisen und Erklärungen abzugeben.

„Meine lieben jungen Gäste“, hob Nicklas – nun mit betont feierlichem Ton – an, „Sie haben die Ehre, im Angesicht des Gebäudes zu stehen, in dem George Martin aufwuchs. Sie kennen diesen Namen nicht, haben nie etwas von ihm gehört? Nun, George Martin hat seinerzeit die Karriere der Beatles maßgeblich vorangetrieben und sie zu Weltstars gemacht. Die Beatles sind Ihnen ja wohl bekannt“, kicherte die Gästeführerin so, als ob sie gerade einen herrlichen Scherz gemacht hätte, den jeder verstehen müsste. Allerdings wussten beileibe nicht alle der schwedischen Mädchen auch nur annähernd Bescheid über die Fab Four.

Eine der Schülerinnen aber fiel Louise Nicklas direkt auf: Vanessa. Als die Besichtigungstour zu Ende war, nahm sie das Mädchen beiseite, blickte tief in Vanessas azurblaue Augen und sagte langsam und extrem prononciert: „Wenn Sie mehr über den geheimnisumwitterten George Martin und vor allem auch seine Kinder wissen möchten, erzähle ich es Ihnen gerne. Dazu müssten Sie aber mit mir nach Deutschland kommen, die Sprache erlernen und dort auf Dauer bleiben.“

Louise hatte Vanessa, die zum Zeichen der Zustimmung intuitiv nickte, komplett in ihren Bann gezogen. Was wohl ihre Eltern in Kiruna zu ihrem plötzlichen Entschluss sagen würden? Schließlich war Vanessa stets von ihnen umsorgt und behütet worden. Vater Gunnar hatte auch noch so viel vor mit seiner Tochter. Am liebsten hätte er, der Direktor der Freien Musikschule, aus ihr eine weltberühmte Pianistin gemacht.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 16
Lutz Schulmann

„Wann reisen wir?“, fragte Vanessa. „Gleich morgen früh mit der ersten Maschine nach Frankfurt“, antwortete Louise Nicklas mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldet.
Viola Bo: (leider erlaubt das System keinen Einschub in einen vorangegangenen Text; daher dieser Nachtrag zu Kapitel 15 nach Kapitel 16; das System bittet um Nachsicht)

Fortsetzung Kapitel 15
Armin Conrad

„Und Sie fälschen Dokumente?“ Walzer sah Vanessa Liedholm mit dem Ausdruck eines Triumphs an, den so still und doch gleichzeitig geräuschvoll nur ein Beamter empfinden kann, der jahrelange Demütigungen als Mensch, als Mann, als Polizist zu ertragen gewohnt war und nun in ein plötzliches Licht blinzeln durfte. Oder musste? In seinem Kopf arbeitete es. „Hatten Sie das Original in der Hand?“ Weitere Fragen drängten sich auf. Wie lange? Wer wusste von diesem Deal? Walzer schaute Vanessa Liedholm durchdringend an. Es dämmerte ihm was. Er blühte auf. Er malte sich aus, dass es vielleicht sogar einen weltweiten schwunghaften Handel mit Autografen gäbe. Er erinnerte sich an eine Sonderausgabe des Fachjournals „Kriminalist“. War da nicht vor einigen Jahren der Fall einer Galeristin aus der Taunusstrasse gewesen? Eine angebliche Partitur von Monteverdi –`ne halbe Million. Schwierige Beweisführung für die Staatsanwaltschaft.

Und jetzt: Dreistes Fälscher-Handwerk mitten in der Stadt. Eine illegale Kopie aus dem Beatles-Nachlass gegen – Naturalien. Dabei war Luisa Maria Castro immer notorisch pleite gewesen. Aber gut, jetzt stand Lady Madonna vor ihm. Er schob die genderhaften Belehrungen der Frau im Trenchcoat in seine hintere Hirnhälfte. Der Fall Schauß war vermutlich ganz anders, als jetzt gerade alle dachten. Walzer gab sich noch mal einen Ruck und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

„Möchten Sie einen Cappuccino?“ ‘ne Kunststudentin! Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie Escort-Service gesagt hätte. Er war sicher: Die junge Frau hatte noch mehr an Information zu bieten. Unter dem Keller mit den Leichen war ein weiterer Keller! Frau Anna-Maria Schauß – ha. Die Verlegerin – pff und nochmal – ha. Walzer sog Luft ein, er war vor einer guten Woche Nichtraucher geworden, das war jetzt sehr schwer, aber sonst. Er lächelte in sich hinein. Die junge Frau hatte sich gesetzt, der Cappuccino wurde gebracht.

Nicht nervös werden, dachte Nils Walzer. Erst mal die Chefs informieren, auch wenn denen das alles portugiesisch vorkommen sollte. Dann die Kolleg*innen vom Betrugsdezernat. Einen gab es, der davon erstmal nicht erfahren durfte. Jetzt bellte der Hund, und der Schwanz hatte sich ruhig zu verhalten.
Viola Bo: Kapitel 17
Martina Schmid

Während Hauptkommissar Walzer mit dieser ominösen Vanessa im Café saß, bekam er einen Anruf aus der Gerichtsmedizin. Anna-Maria Schauß wurde vergiftet. Er hatte es also nun eindeutig mit einem Mord zu tun. Auch das noch. Die Kollegen im Urlaub, er selbst noch völlig neben sich von dem Schlag auf den Kopf, und eigentlich wollte er ja die Zeit nach der Impfung nutzen, um diese faul auf dem Sofa zu verbringen.
Warum immer er, fragte er sich. Kann es denn nicht auch mal jemand anderen treffen.
Der Gedanke „Mord“ drängte sich aber sofort wieder in den Vordergrund und damit auch die Erinnerung an die Szene im Treppenhaus der Burg, als Clara völlig hysterisch in ihr Handy brüllte: „Du musst was unternehmen!“ Gesprächsfetzen aus der Vernehmung von Clara schlichen sich in seine Gedanken. Ihr Apotheker-Freund in Hannover, Gift, Mord ...
Er blickte auf, sah Vanessa noch dasitzen, die er, völlig in seine wirren Gedanken verloren, total vergessen hatte. Er hatte doch mit dem Pfarrer gerade noch eine „heiße Spur“ und jetzt, jetzt kann er wieder von vorne anfangen. Welch ein Tag!
Nachdem also nun seine brandheiße Spur ziemlich abgekühlt war, sank er in sich zusammen, und all diese wirren Gedanken kreisten in seinem Kopf. Das war die reinste Achterbahnfahrt, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen... Notenblatt, die angeblich uneheliche Tochter Eva, die beiden anderen Töchter Edith und Clara, der Gärtner Rogowski, die portugiesische Haushälterin Luisa Maria Castro, der Pfarrer, die geheimnisvolle Geschichte der Burg, die Malerin Louise Nicklas, die Erben von George Martin, den alten Steuerfuchs Dr. Wagner, den Frankfurter Goldgräber Heinz Simmerer und zu allem Übel noch der WK-Reporter Gangolf Säbel mit seinen abenteuerlichen Geschichten und jetzt noch diese Vanessa.
Er musste raus, seine Gedanken sortieren. In solchen Situationen half ihm immer Bewegung an der frischen Luft. Er verließ das Café und ging zurück ins Polizeipräsidium. Kurze Zeit später verließ er es in seinen Laufklamotten und joggte durch den Kurpark in Richtung Sonnenberg. Am Anfang geisterten noch all diese wirren Gedanken in seinem Kopf, doch je länger er lief, desto leerer wurde sein Kopf. Er spürte zunehmend, wie dieses Knäuel an Gedanken verschwand, und er sich nur noch auf seine Atmung konzentrierte. Er hatte einmal in einem Buch gelesen: „Wenn wir uns auf den Atem konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Verbindung von Körper und Geist.“ Das war, was er jetzt brauchte, um fokussiert an der Lösung des Falls zu arbeiten. Zum Glück hat er immer ein paar Laufsachen in seiner Schublade. Gut gelaunt und voller neuer Energie trabte er ins Präsidium zurück.
Hauptkommissar Walzer machte sich gleich daran, die Faktenlage zu strukturieren. Er sortierte die Fotos aller Beteiligten auf einer großen Glaswand und verband die jeweiligen Fotos mit Linien, um das Beziehungsgeflecht darzustellen. Puh, das war wieder typisch Wiesbaden, irgendwie waren alle in irgendeiner Weise miteinander verbunden. Während er vor dieser Wand stand, die Hände tief in seinen Hosentaschen und sehr zufrieden mit seiner Darstellung, trat er einen Schritt zurück und ließ das Bild auf sich wirken. Er machte sich Gedanken über die jeweiligen Motive der Einzelnen, und das war bei allen – Habgier. Zumindest war das das offensichtliche Motiv. Wenn sich ein Motiv so aufdrängt, ist es dann das wirkliche Motiv? So dachte er nach.
Und wie er so vor seiner Wand stand, die Hände immer noch tief in seinen Hosentaschen vergraben, fiel ihm wieder ein, dass während dieser wirklich schrägen Zusammenkunft in der Burg, als ihm die chinesische Vase über den Kopf gezogen wurde, der Satz gefallen war:
„Ihr alle glaubt, dass es hier um Dinge wie Schmuck, Sparbücher und Erbschaften geht. Dabei geht es um was viel Wichtigeres.“
„Ach ja, worum denn?“, hatte Louise gefragt.
„Um Liebe.“

Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 17
Martina Schmid

Er konnte sich aber einfach nicht erinnern, wer das gesagt hatte. Der Schlag mit der Vase war ganz schön heftig gewesen. Woran er sich aber erinnerte, war, dass Eva-Maria hier kurzzeitig ihre Fasson verloren hatte. Er erinnerte sich nicht mehr so genau an den Wortlaut, aber die Vermutung der Gesprächspartner war, dass es um die Liebe zwischen Anna-Maria Schauß und George Martin ging. Doch was war dann das Motiv? Er schrieb mit einem roten Stift: „Motiv Liebe?“ auf die Wand.
Dann schweiften seine Gedanken wieder ab. Ach, die Liebe... Er hatte bisher kein Glück in der Liebe. Schön wäre das schon mal wieder, sich zu verlieben. Nur, wo sollte er denn jemanden kennenlernen? Mit seinen schrägen Arbeitszeiten und all den Einschränkungen durch Corona.
Die Tür flog auf und riss Hauptkommissar Walzer aus seinen Gedanken.

Währenddessen betrat Eva-Maria in Frankfurt das Geschäft von Heinz Simmerer. Dieser schickte seine Angestellt mit den Worten: „Ich werde das Geschäft heute abschließen und die Kasse machen“ in den wohlverdienten Feierabend. Kaum war seine Mitarbeiterin aus der Tür, schloss er ab und fiel Eva-Maria in der Werkstatt in die Arme.
Die war völlig aufgelöst, sie hatte Angst, dass Hauptkommissar Walzer aufgefallen war, dass sie bei dem Motiv „Liebe“ kurz die Fasson verloren hatte. Würde sie beide jetzt auffliegen? Ihr Plan war so perfekt, sie hatten für Edith ein leckeres Stück Kuchen in deren Lieblingskonditorei Gehlhaar gekauft und es mit dem Gift präpariert. Nach Ediths Tod wollten sie endlich gemeinsam in ihre Zukunft starten. Das Startkapital hatten sie schon, den Schmuck.
Doch Edith hat den Kuchen offensichtlich nicht gegessen, sonst wäre sie jetzt nicht mehr. Hatte Edith den Kuchen ihrer Mutter gebracht?
Seit Edith den Schmuck im Tresor ihres Mannes entdeckt hatte, verhielt sie sich auch seltsam. Ob Edith wohl von ihrer Affäre wusste? Vielleicht vermutet sie jetzt auch, dass wir sie umbringen wollten, sagte Eva-Maria, immer noch völlig panisch.
Da ging auf einmal das Licht aus. Der komplette Laden und die Werkstatt lagen im Dunkeln.
Viola Bo: Kapitel 18 (Exkursion)
Jutta Szostak

Gangolf Säbel war ins Grübeln gekommen. Dieses Papier hatte ihn nicht losgelassen. War es wirklich so kostbar, wie alle denken? Und ein Auslöser für einen Mord? War das alles nicht ein bisschen voreilig? Er hätte schon gern einen Knaller im Blatt gelandet, aber er war ja kein Sensationsreporter. Deshalb rief er seinen früheren Kollegen Joachim an, der nicht nur ein großer Fan der Karl-May-Filme war und alles, wirklich alles darüber wusste, sondern sich ebenfalls als Kenner der Beatles hervorgetan hatte. Mit seinem Wissen, das auch Kleinstdetails umfasste, hätte der glatt bei jeder Quizshow auftreten können. „Gibt es einen unentdeckten Beatles-Song, der noch nicht auf dem Markt ist?“ fragte Gangolf seinen Spezi. „Nie im Leben“, war die Antwort. „Alles, aber auch alles ist schon gesichert und archiviert“.
Und nun? Säbel grübelt und denkt plötzlich an die junge Redakteurin in der Kultur. Die nervt ihn zwar öfter mal mit ihren schlauen Sprüchen wie: ,Alte hessische Bauernregel: Doppelcheck' oder ,Dem Redaktör ist nichts zu schwör', aber ... ist ja was dran. Und, zugegebenermaßen, ist sie ganz helle. Er ruft sie an und fragt, ob sie sich mal auf einen Kaffee treffen können.
Sonja Blum ist verblüfft. Was will denn der alte Zausel von ihr? Natürlich sagt sie zu, selten genug, dass sich einer aus den höheren Etagen für Kultur interessiert.
Beim Kaffee erfährt sie die ganze Geschichte, soweit bekannt. Donnerwetter, ist der Mann heute redselig, naja, Rentner. Der weiß nicht, wohin mit seinem marodierenden Energiepotential. Den Spruch hatte sie mal im Fernsehen gehört und behalten. Hier trifft er zu.
Schließlich kommt er zum Punkt. „Weißt du, ob mein alter Spezi recht haben könnte mit seiner Einschätzung?“
„Gut möglich, Doppelcheck ist nötig“, sagt Sonja Blum. „Dazu fallen mir zwei Sachen ein. Erstens, erkundige dich doch mal bei dem Schiller in der Musikschule, netter Mensch. Der ist kompetent und, soviel ich weiß, Beatles-Spezialist. Schade, dass du das Corpus delicti nicht vorliegen hast, dann könnte er ja gleich die Noten überprüfen, vielleicht handelt sich's ja um einen Song von Udo Jürgens“.
Und grinst.
Beim Stichwort ,Corpus delicti' lächelt Gangolf Säbel fein und zieht sein Handy aus der Tasche.
„Ich sichere ja mein Material“, sagt er und zeigt das Foto von ,dem Papier', das er im letzten Augenblick in der Villa hatte machen können, unbemerkt von allen. War nicht ganz einfach, das musste er sich eingestehen, er ist halt kein Digital Native, und bis er so ein Bild mal hinkriegt, dauert es. Immerhin.

„Prima“, lobt Sonja Blum gütig, „jetzt komme ich zu ,Zweitens'. Du musst dich mit diesem Kommissar zusammensetzen. Bei der Polizei ist ja das Thema ,Fälschungen' seit Langem bekannt und sicher auch im Kalkül der Ermittler“.
„Leider sind wir uns nicht besonders grün“, meint Säbel. „Egal“, sagt Blum, „du willst doch vorankommen, das bedeutet Kooperation mit der Polizei. Zeig‘ ihm dein Handyfoto“.
Da muss Gangolf Säbel seufzen.
Viola Bo: Kapitel 19
Bernt Armbruster

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Die Stewardess beugte sich zu den beiden Frauen und deutete auf den Getränkewagen. „Danke“, murmelte Vanessa Liedholm schläfrig. Anders als Louise Nicklas, die sich leicht panisch fühlte, wie immer, wenn sie ein Flugzeug besteigen musste. Aber London-Frankfurt war anders kaum zu machen. Ein Piccolo würde guttun. Entspannter lehnte sie sich zurück. Als die Maschine schließlich ihre Flughöhe erreicht hatte und in ein gleichmäßiges Surren überging, spürte sie ihre Lider schwer über den Augen.

Halbschlaf. Zeitenwechsel. Erinnerungen.

Sie war mit ihrem Liebhaber zusammen, dem Mann, der ihr Vater hätte sein können und der für sie tatsächlich so etwas wie ein Vater war. Den sie liebte wie einen Vater. Aber eben nicht nur so. Sonst würde sie nicht in seinem Bett liegen, seine Hand auf ihr, ihre auf ihm. Er hatte diese Hand über sie gehalten, selbst in den abseitigsten Zeiten, wie sie eine Künstlerin durchlebt, um sie selbst zu werden. Hatte sie aus ihren Abgründen geholt. Hatte ihr schließlich Zugang zu den Kreisen verschafft, die den Kunstmarkt beherrschen. Und zu den Leuten, die ihre Bilder kaufen. Sie war bereit, auch für ihn alles zu tun.
In dieser Nacht hatte Dr. Wagner ihr von seinem Freund Eberhard und dessen Vermächtnis erzählt.
„Eberhard und ich, wir waren wie Blutsbrüder, die zusammenstehen, was auch immer kommt. Das war schon zu Studentenzeiten so. Wir waren wie eine Blüte und eine Biene: er, der sensible, emotionale Musenfreund, und ich, der spröde, kühle Steuerrechtler.“
„So spröde und kühl bist du doch gar nicht“, kicherte sie und ließ ihre Fingerspitzen über seinen Rücken wandern. „Aber sehr anders sind wir auch.“
„Stimmt“, gab er ihr Recht. „Allerdings bist du quicklebendig. Und Eberhard starb leider viel zu früh an einem Herzinfarkt. Sie war es, sie hat ihm das Herz gebrochen.“
„Wer, sie?“
„Eberhards Frau. Ich werde euch beide zusammenbringen und ich bin ziemlich sicher, dass sie dich und deine Arbeit goutieren wird. Sie liebt es, sich mit Menschen zu umgeben, die sie von sich abhängig machen kann. Vielleicht kauft sie deine Bilder, vielleicht fördert sie dich auf ihre Weise. Wer weiß? Du wirst einen Platz ganz in ihrer Nähe finden, und das wird uns ermöglichen, noch mehr Leute in ihre Nähe zu bringen, gefährliche Leute. Sie wird Angst bekommen und nicht nur das. Dieses Mal hilfst du mir. Und posthum meinem Freund Eberhard.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“.

Und dann erzählte er ihr die ganze Geschichte: Wie nach dem Studium er, Dr. Wagner, als Steuerberater und engster Vertrauter seinem Busenfreund Eberhard Schauß und dessen Musikverlag zum geschäftlichen Erfolg verhalf, wie Anna-Maria, ein einfaches Lehrlingsmädchen den sentimentalen Eberhard verführte und sich sein Herz untertan machte, wie schnell die Heirat folgte und zwei Töchter geboren wurden, wie glücklich er zuhause war mit seiner Lebensliebe und seiner kleinen Familie, wenn ihn nicht gerade die Arbeit im Verlag auffraß. Wie er dann irgendwann spürte, dass sie sich zu verändern begann.
Wenn Eberhard jetzt heimkam, waren immer andere Menschen da, Nachbarn, junge Leute, nicht selten völlig Fremde. Eigenartige Musik, Düfte, die er nicht kannte, Redensarten, denen er nicht folgen konnte. Eines Abends, als ihm gelang, sich früher als sonst vom Verlag loszueisen, ertappte er Anna-Maria. Ein nackter Mann floh unter tausendfachen Entschuldigungen. Aber Eberhard erkannte ihn: ein Engländer aus der Londoner Szene, ein Musikproduzent. Und seine Frau war schwanger.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 19
Bernt Armbruster

„Mein Freund Eberhard ist in diesem Moment zerbrochen. Als er spürte, dass es mit ihm zu Ende ging, trug er mir sein Vermächtnis auf: Versprich es mir, angesichts meines Todes - schick sie mir nach, wenn ich jetzt gehen muss. Zwei Tage später hörte sein Herz auf zu schlagen. Und ich bin sein Blutsbruder“, hörte Luise ihn sagen. „Ich werde seinen Auftrag erfüllen.“
Viola Bo: Kapitel 20
Christoph Risch

Er hatte schlechte Laune. Der ICE, in den Joe am Berliner Hautbahnhof eingestiegen war, war kurz vor Kassel 20 Minuten stehen geblieben, ohne dass es dafür eine Begründung gegeben hätte. Die Klimaanlage war schon vorher ausgefallen, das übliche Programm. Dann hatte er auch noch in Wiesbaden-Ost von der S-Bahn auf einen Schienenersatzverkehr umsteigen müssen, angeblich ein Brückenproblem. Als Joe endlich den Hauptbahnhof erreicht hatte, entsprach das Wetter seiner Laune. Es nieselte. Viele Jahre war er nicht mehr in Wiesbaden gewesen. Nie wieder hatte er einen Fuß auf den Boden dieser Stadt setzen wollen, hätte ihn nicht vollkommen unerwartet dieser Anruf von Édith erreicht.
Er hatte gerade in seiner Kanzlei in Wilmersdorf gesessen, da hatte das Telefon geklingelt. Als er ihre Stimme hörte, fing sein Herz heftig an zu pochen. Édith, die damals noch zur Schule gegangen war, und er hatten sich geliebt. Weil ihre Eltern die Verbindung abgelehnt hatten, war ihre Tochter auf ein Internat in der Schweiz verbannt worden. Kalter Entzug. Sie durfte erst zurück, als Joe die Stadt verlassen hatte, um in Berlin Jura zu studieren. Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Auf Umwegen hatte Joe noch erfahren, dass seine Jugendliebe einen Juwelier geheiratet hatte. Jetzt dieser Anruf. Joe hatte sofort gemerkt, dass sie Angst hatte. Stockend hatte sie von den Vorgängen in der „Burg“ erzählt, von der diebischen Putzfrau, dem dubiosen Gärtner, dem unsäglichen Pfarrer, dem tumben Kripo-Mann und von den Schwestern, die wohl ihr eigenes undurchschaubares Spiel spielten. „Ich weiß nicht mehr, wem ich trauen kann. Du musst mir helfen“, hatte Édith ihn angefleht.
Jetzt lief er einen kleinen Umweg durch die nächtliche Oranienstraße, um seine alte Schule zu sehen. Die Zeit zwischen Sexta und Oberprima hatte er hier verbracht, welch schöne altmodische Bezeichnungen für die Klassen. Heute waren es nur noch Nummern. Einfallslos. Den Berg die Schwalbacher Straße hoch, die Röderstraße hinunter. Bäcker Bürger („Die besten Brötchen der Stadt“) gab es noch, das Jazzhouse in der Nerostraße, in dem er unzählige Abende bei Bier und Schmalzbrot verbracht hatte, nicht mehr. Auf dem Weg zurück zur Röderstraße hörte Joe aus einer kleinen Kneipe Gitarrenmusik. Er blieb am Eingang stehen. „Heute hier Bruno Brasil“, las er auf einem Aushang. Die Musik gefiel ihm, er wäre gerne geblieben, doch er musste weiter. In der Taunusstraße, an der Treppe zur Kapellenstraße, wartete Édith. Der Augenblick des Wiedersehens, den er so gefürchtet hatte, ließ sich nicht weiter aufschieben. Sie sah Joe kommen, rannte ihm entgegen und fiel ihm in die Arme. Vorsichtig löste Joe sich von Édith. Ihr liefen Tränen über die Wangen. „Ich habe solche Angst“, schluchzte sie und fügte hinzu: „Ich glaube sogar, dass Eva-Maria ein Verhältnis mit meinem Mann hat.“
Beruhigend strich er ihr über die Schultern, doch als sie zu Ende erzählt hatte, verstand er die Verzweiflung. Langsam, um Zeit zu gewinnen, liefen sie die Taunusstraße in Richtung Geisberg und bogen schließlich in die Kapellenstraße ein. Ihn beunruhigte vor allem Édiths letzte Bemerkung: „Ich habe das Gefühl, da steckt noch etwas viel Schlimmeres dahinter.“
Schweigend erreichten sie die „Burg“. „Ich muss Dir etwas zeigen“, flüsterte Édith. Sie liefen um die Villa herum und standen schließlich vor der Tür auf der Rückseite, durch die zuletzt wohl der Kommissar gegangen war. Leise öffnete Édith die schwere Tür, lautlos glitten beide in den Kellergang. Es war stockdunkel und roch modrig. Joe schaltete die Leuchtfunktion an seinem Handy ein. Gespenstisch erschienen ihre Schatten an der mit Spinnweben überzogenen Wand. Vorsichtig rollte Édith einen kleinen Teppich zusammen, der in der Mitte des Kellerflurs lag. Darunter erschien ein massiver Holzdeckel. Joe schaffte es, ihn beiseitezuschieben.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 20
Christoph Risch

Was sie dort unten erblickten, war so grauenhaft, dass beide es ihr Leben lang nicht mehr vergessen würden. Édith schrie entsetzt auf.
Viola Bo: Kapitel 21
Eva-Maria Götz-Laufenberg

Im Lichte des Handys blickten sie in die toten Augen von Luisa Maria Castro.
Das bereits wachsgelbe Gesicht der Portugiesin war blutverschmiert. Getrocknetes Blut auch in den schwarzen Locken, auf der Stirn klaffte eine tiefe Wunde, sie reichte bis zum Hinterkopf. Entsetzen und Panik hatten sich in die nun starren Gesichtszüge eingegraben. Welch ein entsetzlicher Tod muss das gewesen sein. Sie hatte ihn noch kommen sehen.
Zitternd saß Édith kurz darauf am Küchentisch der „Burg“, ein großes Glas Bourbon aus der immer bestens bestückten Anrichte der Mutter vor sich, auch Joe hielt sich an einem Glas fest, es wurde ihm jetzt doch ein wenig mulmig. „Wir sollten die Polizei rufen, schnell. Wie heißt der Kommissar, der die Sache mit deiner Mutter in die Hand genommen hat?“ „Nils Walzer.“ „Ach ne, Nils.“, sagte Joe. „Ist wohl auch nicht aus Wiesbaden weggekommen.“
Es war immer eigenartig für ihn, in seine Heimatstadt zurückzukommen und festzustellen, wie viele der alten Freunde und Schulkameradinnen es nie weiter weg geschafft hatten als bis zum Studium nach Mainz, Frankfurt oder Darmstadt, um dann spätestens mit Anfang dreißig wieder in Sonnenberg, im Nerotal, rechts oder links der Biebricher Allee oder in einem der Vororte zu landen, sich ein Haus zu bauen, wenn sie nicht gleich ins verwaiste Elternhaus zurückzogen, hier ihre Familien zu gründen und ein meist finanziell gut abgesichertes, ruhiges Leben zu führen. Nicht das schlechteste Leben. Nachdenklich schwenkte er sein Glas. Vielleicht, dachte er, wäre es mir genauso gegangen, wenn ich mit Édith hätte zusammenbleiben können. Dann hätte ich jetzt auch seit 30 Jahren ein Abonnement fürs Staatstheater, würde jeden Samstagvormittag auf den Markt und jedes Jahr im August mindestens einmal aufs Weinfest gehen und jede Art von Veränderung würde mich nervös machen.
Nils Walzer kannte er vom Ruderverein, im Schiersteiner Hafen hatte er einen Großteil seiner Jugend verbracht. Édiths Schluchzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Wer macht sowas?“, fragte sie, starrte dabei vor sich hin. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Wer macht sowas?!“ „Zum einen jemand, dem eure Haushälterin im Weg war“, gab Joe zu bedenken. „Sie muss etwas gewusst haben, über den Tod eurer Mutter oder über den Verbleib der Wertgegenstände. Oder über beides. Und: Der Mörder – oder die Mörderin – muss sich im Haus gut ausgekannt haben. Dieses Versteck dürften ja nicht viele kennen. Wann hast du die Castro zum letzten Mal lebend gesehen?“ „Das ist schon einige Tage her“, überlegte Édith. „Sie hatte Verdacht auf Corona, musste in ihrer Wohnung unter dem Dach in Quarantäne bleiben. Aber dann war es wohl doch falscher Alarm. Rogowski hatte ihr so lange Lebensmittel vor die Tür gestellt, sie waren wohl auch miteinander liiert, jedenfalls früher. Aber der ist ja nun auch verschwunden. Und dieser komische Pastor geisterte hier jetzt manchmal durchs Treppenhaus. Anscheinend hatte er auch einen Schlüssel zu ihrem Appartement.“
Beide zuckten zusammen, als im oberen Geschoss eine Tür zuschlug und hastige Schritte auf der Treppe zu hören waren. „Wer ist denn noch im Haus?“ fragte Joe erschrocken. „Wohnt hier noch jemand??“ „Diese Kunststudentin Vanessa Liedholm wohnt in Evas ehemaligem Zimmer. Mutter hatte ja einen Narren an ihr gefressen, seitdem die Niklas sie hier ins Haus geschleust hatte. Ständig waren die beiden zusammen, als wäre plötzlich eine vierte Tochter aufgetaucht. Auch mit der Niklas war Mutter ja ganz eng. Irgendwie hatten die drei auch Geheimnisse vor uns. Da war eine ganz eigenartige Dynamik im Gang plötzlich. Ich habe dieser Niklas nie getraut.“
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 21
Eva-Maria Götz-Laufenberg

Dann fiel auch noch die Haustüre schwungvoll ins Schloss, und es war wieder still. Totenstill. Joe hätte jetzt wirklich sehr gerne die Polizei gerufen, aber Édith brauchte wohl noch ein wenig Bedenkzeit. Er dachte an Anna Maria, die lebenslustige Mutter seiner Jugendliebe. Wie aufgebrezelt die immer war, die Partyqueen von Wiesbaden, rot gefärbtes Haar, teure Kleider, ziemlich kurze Röcke und enge Hosen, immer grell geschminkt, das genaue Gegenteil seiner Mutter, die in der Biebricher Rathausstraße einen Lotto- und Zeitschriftenladen betrieb. Er dachte an die wilden Feten, die Anna Maria in den repräsentativen Räumen der Burg veranstaltet hatte und zu denen Édith ihn mitgenommen hatte, bis sie dann plötzlich im Schweizer Internat verschwand. Die amerikanischen Jazz- und Rockbands, die in der Wartburg oder in einem der Clubs der Nerostraße vor den GIs und begeisterten Wiesbadenern aufgetreten waren, bekamen hinterher immer eine Party hier in der Kapellenstraße, und immer stand Anna Maria dabei im Mittelpunkt. Édiths Vater ließ sich kaum jemals sehen. Die Burg bot Ausweichmöglichkeiten genug, aber meistens verbrachte Eberhard die Nächte sowieso im Verlag, wo er sich hinter seinem Chefbüro ein Bad hatte einbauen lassen und ein kleines, aber exklusives Schlafzimmer. „Lass‘ uns hochgehen, ich will mir Luisas Wohnung ansehen“, sagte Édith plötzlich. „Bist du verrückt? Wir hinterlassen doch Spuren. Willst du, dass wir uns verdächtig machen?“ Joe war sichtlich entsetzt. „Wir hinterlassen keine Spuren!“, sagte Édith bestimmt und zog aus einer der Küchenschubladen ein Päckchen Einmal-Handschuhe. Ein Paar davon streifte sie sich über, ein anderes warf sie vor Joe auf den Tisch. Aus einer Zigarrenkiste, die in einem der unteren Schränke hinter riesigen Töpfen versteckt war, fischte sie mit geübtem Griff einen dicken Schlüsselbund, und schon war sie die Treppe hinaufgestürmt. Joe blieb nichts anderes übrig als zu folgen.
Es war schon vor ihnen jemand in der Wohnung gewesen, das war klar. Und der – oder die – hatte gründliche Arbeit geleistet. Alle Schubladen und Schränke standen weit offen, ihr Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Neben dem Bett – auch die Matratze war herausgezerrt und hing halb über dem Gestell – stand eine gepackte Reistasche, offensichtlich ebenfalls durchwühlt. Bevor Joe richtig zu Atem kam, war Édith schon wieder an ihm vorbei durch den kleinen Vorflur das Treppenhaus hinuntergestürzt. In der Etage, die sich einst die drei Schwestern geteilt hatten, machte sie sich an einer verschlossenen Türe zu schaffen, schließlich fand sie an ihrem Schlüsselbund den Schlüssel, der passte.
Es war Eva-Marias altes Mädchenzimmer, in dem Édith nun das Licht anmachte. Die Jugendmöbel standen unverändert. Sogar die alten Plakate, U2 und Coldplay vor allem, hingen noch an den Wänden. Aber auf dem Schreibtisch und auf den Fensterbrettern standen nun Gläser mit alten Schreibfedern in allen Größen und Stärken, daneben Tintenfässer in allen Farben und von verschiedener Herkunft, manche wirkten antik. Auch moderne Füller und anderes Schreibmaterial waren sorgfältig nach Größe und Farbe geordnet. Auf und neben dem Tisch stapelten sich Papierbögen, noch leer, auch sie aus unterschiedlichen Zeiten, einige strahlend weiß, andere vergilbt und mit ausgefransten Rändern. Bereits vollgeschriebene Notenblätter lagen zum Trocknen auf dem Bett, auf dem Boden und auf jedem dafür nur geeigneten Platz im Raum. Édith und Joe sahen sich an.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 21
Eva-Maria Götz-Laufenberg

Sie waren in eine Fälscherwerkstatt geraten. Im noblen Haus der hochangesehenen Wiesbadener Verlegerfamilie Schauss lag nicht nur eine veritable Leiche im Keller, hier wurde auch offensichtlich einem kriminellen Handwerk nachgegangen. Wie lange schon? Joe dachte an den grausigen Fund von heute Abend und daran, wie zielstrebig Édith das Versteck mit der Toten freigelegt hatte. Ihm wurde übel, und er bereute zutiefst, dass er Édiths Hilferuf gefolgt war.
Viola Bo: Kapitel 22
Rita Rosen

Ungeachtet der schrecklichen Ereignisse der letzten Tage hatte Clara darauf bestanden, dass sich die Schwestern noch einmal zusammensetzen sollten. Sie wollten Tee trinken im ‚Blauen Salon‘ und der Mutter pietätvoll gedenken. Nicht über all die Vermutungen und Verdächtigungen sprechen, die sie alle so belasteten.
Clara war als Erste da und bereitete alles vor. Sie nahm das Teeservice aus Meißner Porzellan, das nur an Festtagen benutzt wurde, aus dem Büfett und eine schön bestickte Tischdecke. Griffbereit legte sie eine CD beiseite, ‚Vivaldis Jahreszeiten‘, die Mutter so liebte. Sie wärmte die Teekanne und stellte den Kuchen auf den Tisch. Extra besorgt bei „Maldaner“, dem besten Café der Stadt.
Édith kam herein. „Oh, schon alles hergerichtet, und mit dem ‚guten Teeservice‘. Wenn Mutter das wüsste“, lachte sie.
„Ja, wir wollen ihrer würdig gedenken und ihr danken.“
„Nun übertreib' nicht, wir wollen nichts idealisieren. In der letzten Zeit war sie unausstehlich geworden. Unzufrieden, nörglerisch und herrschsüchtig.“
„Ja, das Alter …“
„Pass auf, dass du nicht auch so wirst, manchmal meine ich...“
„Ich bin die Älteste, ich musste mich immer alles kümmern.“
Clara goss den Tee ein und verteilte die Tortenstücke: ‚Schwarzwälder‘ für sich, ‚Sacher’ für Édith, ‚Pralinencreme‘ für Eva.
„Wo bleibt sie nur?“ fragte Édith.
„Ach, wie immer, zu spät.“
„Ich finde, sie ist in der letzten Zeit sonderlich geworden. Zerstreut, unruhig, irgendwie verträumt. Was wohl dahinter steckt?“ fragte Édith, um dann entrüstet zu vermuten: „Doch nicht wieder ein Mann!?“.

Darin waren sie sich einig. Eva und ihre Kerle, eine ewige Pechsträhne. Immer hatte sie nach dem verkehrten gegriffen. Wie versessen war sie darauf, verheiratet zu sein. Dann rückte Édith näher an Clara heran, um ihr im Flüsterton etwas Wichtiges mitzuteilen: Eva hatte vor einigen Tagen den Wunsch gehabt, mit ihr zu sprechen. Sie trafen sich. Da hätte Eva ihr doch allen Ernstes gesagt, dass sie vorhabe, weg zu gehen, weg zu ziehen. Die popelige Familie verlassen, das versnobte Wiesbaden, das Corona verkorkste Deutschland. Sie hätte es satt. Sie wolle nach Griechenland ziehen. In einer Fernsehdoku hatte sie gesehen, dass viele Deutsche das tun. Die Griechen nähmen einen gern auf. Ziemlich unbürokratisch. Man muss nur nachweisen, dass man finanziell abgesichert ist. Ich habe sie ganz entgeistert gefragt, ob sie alleine das denn wagen würde? Und sie sagte kess: ‚Das wird sich zeigen.‘
„Was“, rief Clara erschrocken, „was hat sie vor? Sich aus dem Staub zu machen? Davon weiß ich ja nichts.“
„Du musst auch nicht alles wissen. Aber über diese ernste Angelegenheit informiere ich dich.“
„Und was sollen wir tun?“
Clara sah sie triumphierend an.
„Ich hab‘ noch Schlimmeres zu berichten!“
Eva hätte vor einigen Tagen eine Unterredung mit der Mutter gehabt. Da habe sie ihr klipp und klar erklärt, dass sie auswandern wolle. Sie fühle sich schlecht behandelt in der Familie, wäre nie richtig akzeptiert worden. Besonders nicht von den Schwestern. Und das Gemunkel über ihren ‚richtigen oder falschen Vater‘ hätte sie sehr belastet. Sie als Mutter trüge die Hauptschuld daran, weil sie nie ein klares Wort gesagt habe.
„Ach, die alte Leier“ rief Clara angewidert „ich kann sie nicht mehr hören.“
„Du musst noch mehr hören, also spitz‘ die Ohren.“
Fest entschlossen hatte sie über ihre Auswanderungspläne gesprochen. Und dann ihr Hauptanliegen vorgebracht: Dass sie hierzu Geld benötige.
„Und nun halte dich fest, liebe Clara.“

Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 22
Rita Rosen

Sie verlange, dass ihr Erbteil ausgezahlt werden solle! Das stünde ihr zu, seit dem Tod des Vaters! Wie Eva gestand, war Mutter zutiefst erschüttert. Sie begann zu kreischen: ‚Ruin … der Verlag … niemals …‘, hatte Atemnot und erlitt einen Herzanfall. Nur mit Mühe konnte Eva sie ins Bett bringen.
„Mein Gott“, stöhnte Clara, „das hat Mutter umgebracht.“
„Richtig – aber ich glaube, dass da noch nachgeholfen wurde.“
„Mit was?“
„Das wird die Obduktion und die Untersuchung zeigen.“
Durch die Tür herein gerauscht kam Eva. „Sorry, aber ich …“

Viola Bo: Kapitel 23
Helmut Nehrbaß

Eva war völlig außer Atem. „Ihr habt gut Tee trinken. Ihr sitzt hier mal wieder wohlversorgt im kuscheligen Nest, während mir der Arsch auf Grundeis geht.“ Clara und Edith schauten sich verdutzt an. Die kleine Schwester war schon immer etwas schräg, doch nun waren offenbar alle Sicherungen bei ihr durchgebrannt. Mit wirrem Haar und gerötetem Gesicht schnauzte sie die beiden wutschnaubend an: „Ihr habt doch schon immer vom elterlichen Wohlwollen und vor allem von ihrem Reichtum profitiert, und ich habe in die Röhre geguckt.“ Ihre Stimme überschlug sich. „Und dann habt ihr euch auch noch eure Geld- und Goldsäcke an Land gezogen.“ Ihre Erregung ging in Schnappatmung über. „Meint ihr im Ernst, dass ihr mich hier und heute vorladen, vorführen und mit Vivaldi einlullen könnt?“ Clara bemühte sich nach Kräften, die Fassung zu bewahren. „Komm, Schwesterchen! Eine gute Tasse Tee hatte schon immer was Beruhigendes. Und Mutters tragischer Tod sollte nun wirklich kein Anlass sein, hier so auszurasten. Setz dich mal ganz gelassen zu uns, damit wir die Lage besprechen können.“ Noch mehr hätte sie Eva gewiss nicht provozieren können. „Wartet nur mal ab. ihr werdet mich noch kennenlernen“, heulte diese laut auf, schleuderte die ihr zugedachte Tasse Tee an die Wand, spuckte voller Verachtung auf den Teppich und rannte ziellos aus dem Zimmer, kaum dass sie aufgetaucht war.

Am Abend kam es im Hinterzimmer der Szenekneipe „Zum blauen Fuchs“ im Bergkirchenviertel ungeplant und fast zufällig zu einem Treffen mit nahezu konspirativem Charakter. In Guidos stadtbekanntem Kabuff landeten oft zu später Stunde die unterschiedlichsten Typen, manche als Stammgäste, manche so ab und zu für einen Absacker. Einer, der fast jeden Abend hier aufkreuzte, war Herbert Kleinbeutel, Schauspieler, Theaterdirektor und nach einigen Halfpint Bier ein ungebremster Plauderer. Über zwei Stunden bereits hatte er mit missionarischem Eifer Guido an der Theke vom schweren Los der Kulturschaffenden in der Coronakrise erzählt. Guido, der diesen Vortrag in kleinen Variationen in den letzten Wochen schon des Öfteren gehört hatte, war ein geduldiger Zuhörer, recht emotionslos, dabei aber stets wissend, dass seine trinkfeste Kundschaft in erster Linie Selbstbestätigung und kopfnickende Zustimmung suchte. So verkniff er sich auch, entgegnend auf die Einbußen der Gastronomie während der Pandemie hinzuweisen. Schließlich hatte er seine Kneipe wegen diesem Corona-Mist für Monate schließen müssen. Kleinbeutel indes hatte bemerkt, dass sich vor einigen Minuten ein Gast mit seinem Bier an einen der hinteren Tische gesetzt hatte. Solo. Guido hatte er nun lange genug das Ohr voll gequasselt. Gehen wollte er noch nicht. Warum nicht mit diesem Typen da hinten ins Gespräch kommen? Nach ein paar Sätzen merkte er, dass der irgendwas mit Gerichtssachen zu tun haben musste. Ein Ex-Knasti war das bestimmt nicht, aber wohl auch keiner dieser arroganten Advokaten.
Säbel wollte eigentlich viel lieber den recht aufregenden Tag vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen und seine Ruhe haben, aber er wollte auch nicht unhöflich sein. Der etwas zudringliche Typ, der ihn gleich duzte, den er aber nicht kannte und mit dessen Namen er auch nichts anfangen konnte, fragte ohne lange Umschweife: „Weißt du dann nicht auch einiges über den Fall Schauss? Über den redet doch inzwischen die ganze Stadt. Und was man so hört, ist das doch Krimi-Stoff erster Güte.“
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 23
Helmut Nehrbaß

Säbel hatte indes wenig Lust, seine detaillierten Kenntnisse dem Gegenüber am Kneipentisch auszubreiten. Aber da dieser Herbert mit einiger Penetranz weiter bohrte, war ihm bald klar, was der von ihm eigentlich wollte. „Du könntest mir über diesen Fall doch ein Textbuch schreiben. Wir bringen das raus. Wir werden die Ersten sein, noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind. Dass so was in Wiesbaden gut ankommt, hat der Rennental vom Staatstheater ja mit dem ,Casino‘-Stück über die Rathaus-Intrigen gezeigt.“ Kleinbeutel steigerte sich in Exstase und meinte, es sei einfach irre, den Fall auf die Bühne zu bringen, bevor er im Gericht verhandelt worden wäre. Er wisse auch schon, welche Rolle für ihn die passende sei – ach, nicht nur eine.
Säbel allerdings fühlte sich mehr und mehr unwohl und blieb schweigsam. Natürlich widersprach es seiner Berufsehre, in diesem Stadium höchst ungeklärter Verhältnisse überhaupt etwas zu publizieren. Er schlich sich zum Tresen, zahlte sein Bier und ging. Freilich, wenn der ganze Fall aufgeklärt und abgeschlossen sei, ging ihm kurz vor dem Einschlafen noch durch den Kopf, könne er daraus für den "Wiesbadener Kurier" eine packende Fortsetzungsstory schreiben. Stoff für mehrere Wochen, Saure-Gurken-Zeit inklusive. Da könnte er morgen mal mit der netten Kollegin Fiona Leguan drüber reden. Aber die war ja mehr für fiktive Stories zu haben...

Viola Bo: Kapitel 24
Ulrich Kirchen

Fiona Leguan. Klar, mit der musste er auf jeden Fall reden. Denn sie kannte als Feuilleton-Chefin die Familie Schauß natürlich auch. Dass er sich auch noch mit Nils Walzer zusammensetzen sollte, gefiel ihm weniger. Aber das musste wohl sein. Er konnte ja fragen, was die Polizei über seinen brennenden Volvo herausgefunden hatte. Vielleicht ließe sich darauf ein vertrauliches Hintergrundgespräch aufbauen. Aber erst morgen…
Joe wurde es immer unheimlicher. Wieso hatte Édith ihn nach Wiesbaden bestellt? Wusste oder konnte er etwas, das ihr helfen würde? Aber wobei? Warum hatte sie sich bis jetzt noch nicht dazu durchringen können, die Polizei einzuschalten? Hier ging es doch um Mord und groß angelegte Fälschungen. Mitwisserschaft konnte in diesem Umfeld offensichtlich lebensgefährlich sein. Wieder fragte er sich: Wieso war Édith so zielgerichtet zu dem verdeckten Holzdeckel gegangen? Was hatte sie ihm zeigen wollen? Anschließend hatte sie ihn in die Fälscherwerkstatt geführt. Woher wusste sie, wo die Handschuhe und der Schlüssel lagen? Dennoch hatte sie in beiden Fällen überrascht gewirkt. Oder hatte sie das alles nur gespielt? Wollte sie ihn in etwas hineinziehen? Hatte sie ihm eine Rolle zugedacht? Für ihn gab es in jedem Fall nur eine Entscheidung: Die Polizei musste sofort informiert werden. Jede weitere Verzögerung würde den Verdacht auf Édith lenken – und vielleicht auch auf ihn. Das konnte er sich als Anwalt nicht leisten.
Hauptkommissar Walzer hatte eine unruhige Nacht. Morgen würde er mit seinem Chef reden müssen. Dass er das nicht längst getan hatte, war sicher ein Versäumnis. Sein Vorgehen bisher war zudem wenig professionell. Erst ließ er sich zusammenschlagen, dann hatte er nur noch Erinnerungsfetzen. Wieso war übrigens Säbel plötzlich aufgetaucht? Mit dem musste er in jedem Fall sprechen. Was konnte er ihm anbieten, um nicht mit „Informantenschutz“ abgespeist zu werden? Seine Bilanz war, da gab es keinen Zweifel, ziemlich ernüchternd.
Beim Motiv für den Mord an Anna-Maria Schauß und dem Streit in der Familie tappte er noch im Dunkeln. Irgendwer hatte „Liebe“ gesagt. Aber war es das? Oder waren die Verflechtungen vielschichtiger, als es den Anschein hatte? Es gab noch viel zu ermitteln, aber ihm kam auch der Gedanke, dass er vielleicht etwas Entscheidendes übersehen hatte. Außerdem wusste er zum Beispiel immer noch nicht, warum Clara mit ihrem Apotheker in Hamburg telefoniert hatte, als er sie überraschte. Und die beiden anderen Schwestern: Was verbargen sie? Nachdem feststand, dass Anna-Maria Schauß vergiftet worden und offensichtlich schon ein heftiger Familienzwist entbrannt war, bevor dieses Ergebnis feststand, wäre es längst an der Zeit gewesen, die Familienmitglieder vorzuladen und im Umfeld der Familie und des Verlags zu sondieren.
Rogowski war immer noch nicht gefunden. Und Luisa Maria Castro? Wieso hatte er noch nicht zu der Kunststudentin Vanessa Liedholm recherchiert und war ihrem Hinweis, Luisa Maria sei tot, nicht sofort nachgegangen? Stattdessen war er aufgesprungen und durch den Kurpark gejoggt. Sein Kopf war anschließend leer gewesen, seine Gedanken nicht wie erhofft, neu geordnet. Aber die Leere hatte immerhin gereicht, um das Beziehungsgeflecht der beteiligten Personen grob zu strukturieren. Alle Personen, die ihm im Zusammenhang mit der „Burg“ begegnet waren, ging er noch einmal durch. Zwischendurch fiel er immer wieder in einen Halbschlaf und träumte wirres Zeug. Dann schreckte er hoch und grübelte weiter. Er fand nicht das Fadenende des Knäuels. Auch das würde er leider berichten müssen.

Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 24
Ulrich Kirchen

Andererseits: Seine Chance lag vielleicht gerade darin, dass man ihn für etwas unbedarft hielt und ihn unterschätzte. Wenigstens das Betrugsdezernat hatte er wegen der von Vanessa Liedholm eingestandenen Fälschungen eingeschaltet. Vielleicht hatten die etwas herausgefunden, was ihn weiterbrachte, wenn sie nicht wieder mauerten. Aber dieser Gedanke war wenigstens ein Hoffnungsschimmer. Das Telefon läutete, er schreckte hoch.
Viola Bo: Kapitel 25
Belinda Vogt

»Polizeipräsidium Westhessen, K 11, Walzer«, meldete er sich automatisch, obwohl er noch schlaftrunken auf dem Bettrand saß.
»Hallo, hier ist Vanessa Liedholm«, antwortete eine junge Frauenstimme.
Nils Walzer war mit einem Schlag hellwach. Gerade hatte er noch an sie gedacht.
»Das trifft sich gut«, sagte er. »Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie. Zum Beispiel, wieso Sie behaupten, Luisa Maria Castro sei tot.«
Stille am anderen Ende.
»Können wir uns treffen?«, fragte Liedholm schließlich.
»Ja, gerne, kommen Sie zu mir ins Präsidium. Sagen wir, in zwanzig Minuten.«
»Nein, nicht im Präsidium.« Ihre Stimme klang angespannt, von ihrer anfänglichen Lässigkeit war nichts mehr zu spüren.
»Also gut, was schlagen Sie vor?«
»Um neun Uhr im Cafe Del Sol«, antwortete sie rasch und legte auf.
Walzer kannte das im kubanischen Stil gestaltete Lokal am Kranzplatz, das sich in der ehemaligen Trinkhalle des Kochbrunnens befand.
Wenig später sah er die Kunststudentin an einem der hinteren Tische im Außenbereich sitzen. Schwarzer Rollkragenpulli, riesige goldene Creolen, das Haar akkurat zusammengebunden.
Wie bekommen es diese jungen Frauen nur hin, dachte er, selbst am frühen Morgen so frisch und makellos auszusehen, als hätten sie gleich ein Shooting für »Germany`s Next Top Model«.
Er begrüßte sie und setzte sich auf einen der Bistrostühle. Unter dem perfekten Make-up konnte er nun doch ihre Blässe erkennen.
»Ich dachte, Sie wären heute zur Befragung ins Betrugsdezernat geladen«, begann er.
Vanessa verdrehte genervt die Augen. »Ihren Kollegen habe ich schon klargemacht, dass an den Fälschungsvorwürfen nichts dran ist.«
»Aber Sie haben doch zugegeben, dass Sie das Notenblatt mit den Beatles-Unterschriften im Auftrag von Luisa Maria Castro gefälscht haben.«
»Ja sicher, aber ich dachte, sie sei ein Beatles-Fan und möchte es für sich persönlich. Und da ich gerade in meiner Projektarbeit im Modul ›Experimentelle Materialkunde‹ stecke, habe ich es als Vorlage genommen.«
Als die Bedienung kam, bestellte Walzer ein Croissant und einen großen Kaffee, Vanessa begnügte sich mit einem grünen Tee.
»Soso, eine Projektarbeit. Und dann?«
»Luisa Maria hat das kopierte Notenblatt in den Tresor gelegt, was ich ziemlich lächerlich fand.«
»Wieso lächerlich?«
Vanessa fuchtelte vor Aufregung mit den Armen, ihre goldenen Ohrringe funkelten im Sonnenlicht. »Weil selbst das Original nicht viel wert ist«, erklärte sie. »Sehen Sie doch bei Ebay nach, da werden genug echte Beatles-Autogramme auf Alben, Briefen oder Zetteln angeboten. Mehr als ein paar tausend Euro bringen die nicht ein.«
»Hab‘ ich mir fast gedacht.« Vanessa Einschätzung bestätigte seine eigenen Zweifel am Wert der Rarität. »Aber andere Leute sind von der Kostbarkeit des Notenblatts überzeugt«, meinte er. »Allen voran dieser Rogowski.«
Er sah, wie Vanessa Tränen in die Augen stiegen. »Ich hätte dieses blöde Blatt nie für Luisa kopieren sollen. Jetzt fühle ich mich schuldig an ihrem Tod.«
Walzer war versucht, die Hand auf ihren Arm zu legen, ließ es aber bleiben. »Was geschah mit Frau Castro?«, fragte er sanft.
Vanessa tupfte sich die Tränen mit den Fingerspitzen ab. »Sie sind leider davongelaufen, als ich es Ihnen erzählen wollte«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Tut mir leid.«
»Ich gab also Luisa die Kopie, und sie schloss sie im Safe ein. Dann starb Frau Schauß. Anschließend herrschte so viel Tumult im Haus, dass ich zu einer Freundin gezogen bin. Als ich mir vor drei Tagen frische Klamotten holte und noch ein wenig mit Luisa redete, stand Rogowski plötzlich in der Küchentür. Völlig verdreckt, komplett wahnsinnig, eine Axt in der Hand. Wie in ›Shining‹. Er schrie Luisa an: ›Ich bring dich um, du Miststück! Wo ist das Original?‹ Luisa und ich sind sofort geflohen, sie in den Garten, ich auf die Straße. Dann hab‘ ich sie schreien hören.«

Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 25
Belinda Vogt

Schluchzend beugte sich Vanessa über ihren grünen Tee. Walzer reichte ihr eine Serviette.
Rogowski hat also die Kopie aus dem Safe gestohlen und in der Erde vergraben, überlegte er. Und Säbel hat sie uns im Gefrierbeutel präsentiert.
»Aber woher sollte Rogowski wissen, dass er die Kopie besaß?«
Vanessa hob den verschleierten Blick. »Weil ich hauchdünn mit Bleistift ›Kopie‹ auf die Rückseite geschrieben habe. Das Original ist noch bei mir.« Sie packte Walzer am Unterarm. »Verstehen Sie, jetzt ist Rogowski hinter mir her!«
Viola Bo: Kapitel 26 (Exkursion)
Viola Bolduan

Adrian hat Glück gehabt. Die kleine Mansarde, die er in einer der Villen an der Kapellenstraße gemietet hat, ist gerade noch leistbar für den jungen Journalisten, der – zugegeben – für seinen ersten investigativen Auftrag doch ein wenig zu traumverloren in die Welt blickt. Im Moment aber blickt er erst einmal aus dem Fenster vis-à-vis des heruntergekommenen Prachtgebäudes der Schauß’schen „Burg“. Sein Blick ist leicht eingetrübt, denn er ist müde und erschöpft vom Lesen. Wäre es doch nur ein Buch gewesen! Krimi wäre zur Not auch gegangen. Aber für seine Recherche im Musikverlags-Skandal derer von Schauß hat er sich in zu vielen Papieren vergraben, zu lange Namenslisten studiert und zu kryptische Ziffern gezählt, als dass er noch den Wecker seines Handys hätte richtig einstellen können. Gleichwohl – er träumt, er sähe drei Frauen, Schwestern womöglich, gegenüber ins große Haus rein und rauslaufen, einen Mann in Nachbarsgarten buddeln, hört dumpfes Gepoltere, spitze Schreie von drüben, Autos wegfahren und nicht wieder kommen.
Es geht ihn ja eigentlich nichts an, doch in seinem Hirn setzt sich ein Pfarrer fest, dessen Kontur sehr schlechter Manieren mit der irgendeines ,Mädchens für alles‘ – ob nun Frau oder Mann, oder beides – verschwimmt und dann im Kostüm einer Künstlerin im Flugzeug nach London sitzt auf der Suche nach noch unbekannten Kindern eines altberühmten Musikmanagers. Der aber war doch ursprünglich Goldschmied, oder verwechselt sein Hirnstrom da etwas? Jedenfalls verhandelt in einer Bergkirchen-Szenekneipe George Martin mit Notar Dr. Wagner, der ihm vom Techtelmechtel mit Louise Nicklas erzählt – aber Eva ist doch gar kein Kind von ihm …
Da taucht aus den Rauchwolken der Kneipe Luisa Maria Castro auf, kippt eine tote Anna-Maria Schauß auf den Tresen und verlangt Sekt rosé – aber bitte, in den Farben des Original-Schinkens von Louise Nicklas und bittet flehentlich, ihrer beider Vornamen nicht zu verwechseln. Verwechslungen nämlich sind im Zeitungsgeschäft gang und gäbe, wie Polizeireporter Gangolf Säbel und seine seit Langem abwesende Lokal-Kollegin Sonja Blum, schmerzlich erfahren haben – denn, war es vor Kurzem nicht so auch mit einer Fiona Leguan geschehen, seinerzeit Feuilleton-Chefin, wobei es ein Feuilleton im Wiesbadener Kurier doch gar nicht mehr gibt!
Nicht dran denken – noch nicht mal im Traum, hört er’s raunen in einer Stimme, die nach Nils Walzer klingt. Der arbeitet jetzt nicht mehr bei der Polizei, sondern ist ins Fälschergeschäft eingestiegen, mit wachsendem Erfolg, wie eine erfahrene Vanessa Liedholm nebenbei bemerkt und nachfragt, wo denn mittlerweile die drei Schwestern geblieben seien, die doch erbberechtigt waren und wohl auch noch sind? Berechtigt für welches Erbe? Die Frage ist klar, doch die Antwort scheint verlorengegangen im Dunst eines Klimawandels auch in der Kapellenstraße, der Adrian erheblich umnebelt. Muss er die Sache für Eva, Clara und Édith etwa nun selbst in die Hand nehmen?
Es klingelt. Nicht im Handy. Sondern an der Haustür. Und da stehen sie, die Autorinnen Susanne-Angelika-Friederike-Karin-Gudrun-Martina-Jutta-Eva-Maria-Rita-Belinda-… und werfen ihm Plagiatsvorwürfe an den Kopf. Keine Verteidigung wegen bleierner Müdigkeit, keine noch so demütig formulierte Entschuldigung wird entgegengenommen von ihren Kollegen Hans Dieter-Alexander-Richard-Oliver-Horst-Stephan-Markus-Mathias-Manfred-Armin-Lutz-Bernt-Christoph-Helmut-Ulrich-…
Adrian soll haften, ihrer aller bisherige Arbeitszeit entgelten und übrigens auch alle Spesen übernehmen. Verdient hat er selbst als Freier noch nichts. Er wird auf der Straße landen. Da aber steht die Phalanx der tapferen, aber jetzt von ihm missbrauchten Krimi-Fortsetzungen-Schreiber*innen ja schon. Flucht ist unmöglich. Das ist das Ende. Es klingelt. Diesmal nicht an der Haustür. Ob er aufwachen darf? Aus welchem Traum nur?
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 26
Viola Bolduan

Jedenfalls dankt er in aller Form für ihn und widmet sich – nur teilweise erholt – wieder dem Fälscher-Skandal im Schauß’schen Musikverlag, oder gab es auch den nicht ganz woanders? Er würde am liebsten doch weiterträumen – und am allerliebsten von weiteren substantiellen Fortsetzungen der Fiktion in Form von Manuskripten mit 4.000 Zeichen, inklusive Leerzeichen, die er selbst ja offensichtlich nicht hinbekommt.
Viola Bo: Kapitel 27
Jochen Wörner

Bei unserem Gespräch hatte sie keinerlei Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen lassen. Auch als ich die Frage meines Honorars thematisierte, ließ sich keine Irritation erkennen. Ihre Ziele schienen mir etwas unausgegoren –aber das war nicht mein Problem. Ich brauchte Mandanten, die entschlossen ein klar formuliertes Ziel erreichen wollten, und eine solche Mandantin schien ich in ihr zu haben.

Sie hatte ein paar Tage zuvor telefonisch den Kontakt gesucht. Auf Empfehlung eines Wiesbadener Anwalts, wie sie sagte. Der hatte sich wohl inzwischen zur Ruhe gesetzt, aber ich kannte einige der Mandanten, die seine Kanzlei juristisch beraten hatte.
Wir hatten uns in Frankfurt auf unverfänglichem Terrain, im Grüneburgpark, getroffen.
Sie berichtete vom Tod der Wiesbadener Musikverlegerin, den drei Töchter, die jetzt gemeinsam das Unternehmen erben sollten. Sie berichtete von den Problemen, die das alteingesessene renommierte Unternehmen jetzt bereits hatte, und die sicherlich nicht geringer würden, sobald der Verlag in die Hände der Töchter fallen würde. Sie konnte bei ihnen keinerlei Qualifikation für diese Aufgabe erkennen.
Es gab noch die Möglichkeit, dass die drei Töchter das Erbe versilberten und den Verlag an einen anonymen Medienkonzern verkauften. Viel würden sie angesichts seiner wirtschaftlichen Situation wohl nicht bekommen.
Sie hatte natürlich eine – aus ihrer Sicht – überzeugende Alternative. Der Verlag könnte, möglichst als Schenkung, an den Wiesbadener Förderverein zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur gehen, dessen Vorsitzende sie sei. Der Verein könne die Literatur und die Autor*innen dann nicht mehr nur dadurch fördern und unterstützen, dass er Lesungen und Literaturfestivals veranstaltete. Er könnte sie auch verlegen und ihrer Literatur damit eine große nationale Bühne bieten. Ihre Kolleginnen und Kollegen im Vorstand und gerade auch sie selbst verfügten über alle notwendigen Qualifikationen, und der Verlag bekäme durch diese neue Ausrichtung ein neues und stabiles Fundament.
Ich fragte, welche Rolle sie mir zugedacht hatte, welche Ziele sie mit meinem Engagement erreichen wolle.
Spontan, so sagte sie, seien die drei erbberechtigten Schwestern wohl nicht für ihren Vorschlag zu begeistern. Meine Rolle sei es, die drei davon zu überzeugen, dass diese Lösung in jeder Hinsicht die beste, die tragfähigste sei.

Entschuldigen Sie, ich vergaß, mich vorzustellen. Ich bin Anwalt, mein Name muss hier nicht interessieren. Ich habe mir meinen Ruf allerdings nicht im Gerichtssaal erworben. Im Gegenteil; bis heute habe ich meinen Mandanten stets die Öffentlichkeit und das Risiko eines Prozesses ersparen können. Zufriedenstellende Lösungen habe ich immer auf dem Verhandlungsweg erreichen können. Auch wenn die gegnerischen Parteien im Ergebnis nicht immer eine Win-win-Situation erkennen wollten und, gerade in den ersten Jahren, verbale Argumente gelegentlich durch andere ergänzt werden mussten. Meine Mandanten schätzen meine konsequente Zielstrebigkeit beim Erreichen der vereinbarten Ziele, und sie schätzen es sicherlich auch, dass sie nicht mit den Details der Verhandlungen belastet werden.

Meine Gesprächspartnerin sagte mir also, dass sie mich für eine erfolgreiche Verhandlungsführung mit den drei Schwestern engagieren wolle.
Sie gab mir, als Unterstützung meiner Arbeit ein Dossier, das sie zusammengestellt hatte. 26 Wiesbadener*innen aus dem Umfeld der Verstorbenen und/oder ihrer Töchter hatten ihre Sicht und ihre Kenntnisse der Ereignisse um den Tod der Verlegerin niedergeschrieben. Jeder dieser Beiträge für sich war nicht unbedingt aufregend. Aber zusammen ergaben sie, wie ein Puzzle, ein vernichtendes Bild, dessen Veröffentlichung weitreichende Folgen für den Verlag und für seine Erbinnen hätte.

Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 27
Jochen Wörner

Ich nannte noch einmal mein Honorar und gab ihr eine Kontonummer. Nach Eintreffen des vereinbarten Betrages, bestätigte ich ihr, könnte ich meine Arbeit sofort aufnehmen.

Heute Morgen zeigt das Konto den Eingang des Geldes.
Ich werde jetzt ein paar Telefonate führen. Zuerst mit meinen drei Verhandlungspartnerinnen, um mit ihnen einen Termin zu vereinbaren. Dann werde ich versuchen, eine konstruktive Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Eine der drei Schwestern sollte an unserem gemeinsamen Gespräch nicht teilnehmen können, weil sie überraschend ein Krankenhaus, vielleicht anschließend noch eine Klinik für plastische Chirurgie, aufsuchen müsste.
Und am Morgen unseres Gesprächstermins sollte eine Internetseite mit dem ersten Kapitel des Dossiers und der Ankündigung der weiteren täglichen Folge in Wiesbaden für Gesprächsstoff sorgen.
Viola Bo: Kapitel 28
Aloiv Naudlob

Édith ist in der Fußgängerzone unterwegs, als ihr Handy klingelt. Kein Name auf dem Display – aber als der Anwalt seinen nennt, ist er ihr nicht unbekannt.
„Ich bitte um eine Unterredung.“ „Worüber?“ „Wie steht es um den Verlag der Familie? Welche Pläne haben Sie?“ „Interessiert mich jetzt wenig. Ich habe ganz andere Probleme.“ „Vielleicht kann ich ja auch dabei behilflich sein.“ „Kaum anzunehmen.“
Édith bleibt kurz angebunden, denkt insgeheim aber, ein Anwalt könnte ihr schon nützlich sein, nachdem ihr Jugendfreund Joe wieder abgereist ist. „Also gut, wo und wann sollen wir uns treffen?“ „Kommen Sie doch am 25.09., 16 Uhr, in meine Kanzlei …“ Da sei sie zwar, erwidert Édith, bereits auf dem Schlossplatz zu einer Präsentation verabredet, aber, wenn die ausfiele, könne sie den Termin möglich machen.

Clara rutscht nervös auf ihrem Stühlchen auf der schmiedeeisernen Terrasse der Schauß’schen Burg herum. Mutters Leiche soll exhumiert werden. Eine Totenruhe stören – das geht aber doch bitte gar nicht! Die beiden Schwestern aber sind wild entschlossen. Wie kann sie dagegenhalten? Es muss ihr unbedingt etwas einfallen. Das alte Festnetz-Telefon im Haus schrillt.
„Clara Schauß – wer ist am Apparat? Ach, Sie sind es, was verschafft mir die Ehre? Es geht um den Verlag? Darum kümmert sich doch schon unser Notar. An ihm soll vorbeiverhandelt werden? Das ist ja wohl die Höhe! Nichts wird unternommen ohne unseren gewohnten Beistand. Ich muss schon sehr bitten. Édith hat dem Treffen schon zugesagt? Warum ist meine Schwester auch immer so vorschnell… Mit mir können Sie nicht rechnen – bin übrigens zu der angegebenen Zeit auf dem Schlossplatz und höre mir einen Krimi unter dem Titel „Drei Schwestern, erbberechtigt“ an. Klingt doch ganz nach uns – wie könnte ich da fehlen?“ Clara haut den Apparat in die Basis-Station.
Auch in meiner Kanzlei ginge es um euch, sagt der Anwalt zwar nicht, aber denkt es. Clara also hat seinen Vorschlag niedergeschmettert, Édith ihm nur halbherzig zugestimmt. Jetzt wäre noch die kleine Eva zu überzeugen.

Eva hat in der Zwischenzeit auf einem Literaturfestival im Burggarten Sonnenberg die sorgenvolle Frage nach ihrem biologischen Vater, eine Auswanderung nach Griechenland, das fehlende Sparbuch und die Fälscherinnen-Werkstatt in ihrer Wohnung total vergessen, denn sie hat sich an Bücherständen festgehalten, Lesungen zugehört und einen fulminant gefilterten Kaffee getrunken. Dabei hat sie die rührige Vorsitzende des Wiesbadener Fördervereins für zeitgenössische deutschsprachige Literatur kennengelernt, war sehr angetan von deren Arbeit und Anliegen und hat sich angeregt mit ihr unterhalten. Deshalb weiß sie auch sofort, dass, als sie der Anruf aus der Kanzlei erreicht, sie zum vorgeschlagenen Termin ganz und gar nicht kann. Wenn denn der Verein am 25.09., 16 Uhr, auf dem Schlossplatz auftritt, ist sie auf jeden Fall mit dabei. Noch nur im Publikum, aber sie hat sich fest vorgenommen, Mitglied zu werden – und vielleicht liegen entsprechende Antragsbögen ja bei der Gelegenheit aus, denkt sie und freut sich schon mal vor.

Der bekannte, aber namenlose Anwalt ist düpiert. Was ist an diesem besagten Samstag auf dem Schlossplatz nur los? Wenn der Termin für ein Gespräch über die Zukunft des Schauß‘schen Verlags in der Kanzlei nicht zustande kommt, dann träfe er ja offensichtlich die drei Schwestern auf dem Schlossplatz. Und auch die Vorsitzende des Wiesbadener Fördervereins für zeitgenössische deutschsprachige Literatur könnte sich dort einfinden, obwohl an diesem Tag – nicht nur für sie – noch anderes Besonderes stattfindet, wie sie ihm anvertraut hatte. Freilich müsste er dann den Gedanken, am Morgen dieses Tages schon das erste Familien-Dossier zu veröffentlichen, aufgeben.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 28
Aloiv Naudlob

Er – warum kommt er erst jetzt darauf? – selbst könnte das erste Kapitel ja auf dem Schlossplatz vortragen und so einen nachhaltigen, dabei höchst diplomatischen Kontakt zwischen den Schwestern und der Verlegerin in spe knüpfen. Er freundet sich mit der Idee an und markiert vorsorglich den 25. September 2021, 16 Uhr, im Terminkalender.

19.09., 18:50 Uhr. Der Veranstalter: „Hiermit sagen wir das Stadt-Meeting am 25.09. auf dem Schlossplatz ab.“
Viola Bo: 29. Kapitel
Viola Bolduan

Nach dem Wochenende 25./26. September 2021

Adrian liest keine Zeitung und weiß deshalb nichts von einer Absage der öffentlichen Show am 25.09. auf dem Schlossplatz. Es sind ihm allerdings Anliegen und Absicht des bekannten namenlosen Anwalts zugesteckt worden – in einem seiner seltenen hellen Momente. Also macht er sich aus seiner Mansarde in der Kapellenstraße nachmittags zum Schlossplatz auf. Er hat etwas gutzumachen. Denn, wenn dort die drei erbberechtigten Schwestern zusammenkommen und der Vorsitzenden des Fördervereins für zeitgenössische deutschsprachige Literatur begegnen, trifft sicher auch das Autor*innen-Rudel auf, das – mit Hilfe des Anwalts – vielleicht doch noch zu besänftigen wäre.
Als er den Geisberg hinunterschlendert, schickt er einen dankbaren Blick zum ehemaligen „Petersburger Hof“, dessen Autor nun freilich in Berlin lebt und unter die Musical-Librettisten gegangen ist. Aber er sieht ihn doch ganz deutlich vor sich! Auch Hans Dieter Schreeb ist unterwegs zum Treffpunkt Schlossplatz. Also werden sich dort auch einfinden:
Alexander Pfeiffer, Susanne Kronenberg, Angelika Beltz, Richard Lifka, Friedrike Weisse, Oliver Baier, Karin Kuschewitz, Horst Goschke, Gudrun Ornth-Sümenicht, Stephan Reinbacher, Markus Bennemann, Mathias Scherer, Manfred Gerber, Armin Conrad, Lutz Schulmann, Martina Schmid, Jutta Szostak, Bernt Armbruster, Christoph Risch, Eva-Maria Götz-Laufenberg, Rita Rosen, Helmut Nehrbaß, Ulrich Kirchen, Belinda Vogt, Viola Bolduan, Jochen Wörner und Aloiv Naudolb
Die Autor*innen-Gruppe lächelt nervös, sie schwatzt unentwegt durcheinander, als sich die Teilnehmer*innen untereinander bekannt machen – „hallo“, „… und wie heißen Sie?“, „aha, Sie sind das“? – und „sehr gelungen“, „starkes Stück“, „hab‘ ich gern gelesen“, „war ja ganz famos“, aber auch „ich war das nicht, der oder die da geträumt hat, sondern habe mir echt Arbeit gemacht“, „ich hätte auch was Besseres zu tun gehabt“, „war schon ganz schön hart nach Kapitel 25“, „hab‘ ich nicht gelesen, wie ging’s denn weiter? …“ Über solch anmutigem Palaver liegt eine dicke Lobesdecke und hüllt die Plaudernden schützend ein.
„Pst“, „Ruhe, bitte“. 16 Uhr. Die Lesung beginnt. Und dauert bis Kapitel 28 drei Stunden. Die Namensnennung nimmt allein, nachdem heftig mehrere Da capo verlangt werden, 30 Minuten Zeit in Anspruch. Schauspieler Andreas Mach hält das tapfer durch, zumal ihm nicht nur die Autor*innen aufmerksam folgen, sondern ganz Wiesbaden (bis auf die Babys) atemlos zuhört. Die Bevölkerung nämlich ist herbeigeströmt, füllt Marktplatz und die gesamte Fußgängerzone. Da ist es gut, dass der Veranstalter seine beste technische Anlage bereitgestellt hat. Sie alle, inklusive der drei Schwestern, erbberechtigt, hören mit wachsender Spannung, was den drei Schwestern, erbberechtigt, geblüht hat durch alle Fortsetzungen von „Drei Schwestern, erbberechtigt“ hindurch. Nichts destotrotz – drei Schwestern, erbberechtigt, fühlen sich ungemein geschmeichelt und aufgewertet als literarische Figuren, jubeln ihren Urheber*innen zu und danken überschwänglich. Vom Überschwang fällt auch etwas für den Sprecher ab.
Als sich alle aus den heftigen Glückwunsch-Umarmungen herausgelöst haben, winken drei Schwestern die Fördervereins-Vorsitzende herbei und überreichen ihr das Erbe huldvoll mit symbolischem Blumenstrauß – mit der Auflage, als neue Herrin des Verlags ein Wiesbaden-Buch unter dem Titel „Drei Schwestern, erbberechtigt“ zu veröffentlichen. Sie würden gern als künftige Vereinsmitglieder die Arbeit auch weiter unterstützen, beispielsweise mitschreiben wollen, wenn ein neues Chat-Projekt aufgetan würde.
Viola Bo: Fortsetzung Kapitel 29
Viola Bolduan

Mutig schließt sich der bekannte, aber namenlose Anwalt diesem Wunsch an. Seine Aufgabe wäre ja erledigt, und er hat jetzt Zeit. Die Autor*innen-Traube liegt sich glücklich schluchzend in den Armen. Sie will das nämlich auch.

Adrian graut es. Und wacht aus seinem Alptraum auf. Und sieht in die lächelnden Gesichter dreier Schwestern. „Wir wollen uns erkenntlich zeigen und bieten Ihnen die Mansarde im Haus gegenüber, also die in unserer „Burg“ an. Wie Sie wohl wissen, können Sie dort in aller Seelen-Ruhe arbeiten, beziehungsweise vor sich hinträumen von „Drei Schwestern, erbberechtigt“ und zwar – von Anfang an.“ Hilfe!!!

Finis.