Amartya Sen – Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2020

05.02.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1949 jährlich anlässlich der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche an eine Persönlichkeit verliehen, „die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat.“ Verliehen wird also ein Friedenspreis, kein Literaturpreis. Berühmte Friedenspreisträger sind Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Karl Jaspers, Astrid Lindgren und 68 weitere herausragende Persönlichkeiten.

Der Friedenspreisträger des Jahres 2020 ist Amartya Sen, ein Wirtschaftsprofessor aus Indien.

Sen wird 1933 in einem akademischen Elternhaus geboren. Später wird er sagen, er habe sein Leben in Universitäten verbracht. Ihn prägen die frühen Jahre in Indien und dem heutigen Bangladesch, er erlebt die Unabhängigkeitsbewegung der 1940er Jahre, die Kämpfe zwischen Hindus und Moslems, die Hungersnot in Bengalen 1943. Sen studiert Wirtschaftswissenschaften in Kalkutta, er wechselt nach England und promoviert, es folgt das Studium der Philosophie. Er will die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Die ökonomische Theorie trifft auf Moralphilosophie und Ethik.

Seine Laufbahn als Professor führt ihn an die angesehensten Universitäten, Stanford, Berkeley, Harvard, Oxford; er pendelt zwischen der alten und der neuen Welt. Im Jahr 1998 erhält er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Sen veröffentlicht 30 Bücher und über 500 wissenschaftliche Aufsätze, seine Themen reichen von der Sozialwahltheorie über ökonomische Messmethoden bis zur Sozialphilosophie. Seine Werke sind keine leichte Kost, nicht alles eignet sich als Lektüre für den entspannten Sonntagnachmittag.

Will man das Riesenwerk dieses Mannes in ein paar Sätzen erläutern, muss man scheitern. Oder dem Wirtschaftsphilosophen Sen durch grobe Vereinfachung Unrecht tun. Doch vielleicht kann man zumindest drei Themen herausgreifen, für die Sen bekannt geworden ist.

Da wäre erstens der „Capability Approach“, zu Deutsch der „Fähigkeitenansatz“: Für Sen ist die Summe der verwirklichten Seins- und Handlungsweisen einer Person kein zuverlässiger Indikator für ihre objektive Lage: Sieht man das Bild von zwei hungernden Menschen, so befinden sie sich auf den ersten Blick in der gleichen Situation. Dennoch kann man daraus nicht auf ihr Wohlergehen schließen: Denn vielleicht hungert der eine weil er nichts zu essen hat, der andere macht jedoch eine Diät und könnte sie jederzeit beenden. Oder wir sehen zwei Menschen mit einem Fahrrad. Wieder befinden sich beide auf den ersten Blick in der gleichen Lage. Doch auch hier kann sich die objektive Lage vom Eindruck unterscheiden: Denn vielleicht kann der eine Fahrrad fahren und hat einen Nutzen, der andere kann es nicht und hat nichts von seinem Besitz. Daraus folgt: Der Diät-Hungernde ist frei, wie auch derjenige mit Fahrrad, der Fahrrad fahren kann. Der Hungernde ohne Zugang zum Essen ist unfrei, wie auch der Besitzer des Fahrrads, der ein Gut besitzt, das ihm nichts nützt. Trotz eigentlich gleicher Lage hat der eine Alternativen, der andere nicht. Daraus folgt für Sen: Die Versorgung von Personen mit Gütern allein hilft nicht weiter, wenn man nicht auch ihre Fähigkeiten zur Nutzung dieser Güter im Blick hat. Nur wenn man auf die Fähigkeiten und die Umstände schaut, erfährt man, wie gut Personen ihre Güter nutzen können, um bestimmte erstrebenswerte Zustände zu erreichen, also beispielsweise mobil und gut genährt, oder aber politisch aktiv und sozial integriert zu sein. Daraus folgt weiter: Eine Hungersnot etwa kann man nicht allein durch die Lieferung von Lebensmitteln besiegen. Man muss vielmehr auch die Fähigkeit der Handelnden zur Verteilung der Lebensmittel und das Umfeld im Blick haben, in dem sie sich bewegen. So entsteht Hunger nicht allein durch fehlende Lebensmittel, sondern weil ungerechte Marktstrukturen und überforderte oder korrupte staatliche Einrichtungen eine gerechte Verteilung nicht zulassen.

Da wäre zweitens das mit dem „Capability Approach“ verwandte Bestreben von Amartya Sen, die Wohlstandsentwicklung von Bevölkerungen durch die Jahrzehnte zu messen. Das Bruttoinlandsprodukt ist für ihn ein ungenügendes Maß. Daher entwickelte er zusammen mit dem pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq dem britischen Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Meghnad Desai den „Human Development Index“. Gemeint ist ein Indikator, der Gesundheit und Bildung in die Bewertung einbezieht. Der auf dem Index basierende Human Development Report wird seit 1990 im jährlich erscheinenden Bericht über die menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen (UNDP) veröffentlicht.

Und da wäre drittens das von Amartya Sen beleuchtete Phänomen der „Missing Woman“, der „fehlenden Frauen“. Mit diesem Begriff bezeichnet er das Frauendefizit in Bezug auf die zu erwartende Zahl der Frauen in einer Region oder einem Land. Das Frauendefizit setzt sich aus den Mädchen zusammen, die bei der Geburt „fehlen“ (gemessen im Verhältnis zur erwarteten Geschlechterverteilung bei der Geburt) und der Übersterblichkeit von Frauen in höherem Lebensalter (gemessen im Verhältnis zur erwarteten Geschlechterverteilung in diesem Alter). Hauptgrund für die Ablehnung und Vernachlässigung von Mädchen und Frauen ist nach Sen die Präferenz für Söhne, die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche sowie religiöse Ursachen hat. Das erstmals von ihm 1992 beobachtete Missverhältnis in den Geschlechterverteilungen asiatischer Länder wie Indien, China und Südkorea im Vergleich zu Nordamerika und Europa erklärt Sen durch bewusste Benachteiligung von Mädchen und Frauen bei der gesundheitlichen Versorgung und bei der Ernährung, aber auch durch gezielte Abtreibungen und Tötungen. Dies habe weltweit zum „Fehlen“ von über 100 Mio. Frauen geführt.

Es gibt einen Grundsatzstreit in der Wirtschaftspolitik: Muss man das Wachstum fördern, um für Gerechtigkeit zu sorgen, oder fördert die Gerechtigkeit das Wachstum? Amartya Sen ist einer der bedeutendsten Vertreter der Auffassung: Ohne eine gesunde, gut ausgebildete Bevölkerung ist ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum unmöglich. Armut ist schlecht fürs Geschäft; die Ökonomie ist mit der Ethik vernäht. Sein gesamtes wissenschaftliches Leben hat der fast Neunzigjährige in den Dienst der Zusammenführung von Wirtschaft und Gerechtigkeit gestellt, er hat wohlhabenden Studenten in Oxford und Cambridge Wirtschaftswissenschaften gelehrt – und hatte dabei auch die erschütternde Armut seines Heimatlandes Indien vor Augen.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ehrt mit Amartya Sen einen Philosophen, „der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dessen Arbeiten zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildung und Gesundheit heute so relevant sind wie nie zuvor.“

Christian Russ


Amartya Sen, Die Welt teilen – Sechs Lektionen über Gerechtigkeit, Verlag C.H.Beck, München 2020 (128 Seiten, 12 Euro) 

Hören Sie nun ins Buch hinein. Aus dem Kapitel 4 mit dem Titel „Die Welt teilen“ liest Hanns Jörg Krumpholz*.



*Hanns Jörg Krumpholz wurde 1962 in Bonn geboren. Nach seiner Ausbildung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart war er an vielen Theatern engagiert, u.a. am Schauspielhaus Zürich, am Schauspiel Bonn, am Staatstheater Wiesbaden und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Zurzeit arbeitet er freischaffend, neben seiner Tätigkeit als Film- und Fernsehschauspieler (u. a. Tatort Münster) als Sprecher für ARTE, 3SAT, ZDF, WDR und im Synchronstudio.


Wir danken dem Verlag C.H.Beck und dem Kulturamt der Stadt Wiesbaden für die Unterstützung dieses Projekts.