Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

11.12.2020 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Als die seit Langem in Paris lebende deutsche Autorin Anne Weber der französische Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir gegenübersitzt, schildert sie die Situation wie folgt: „Sie schaut die alte Frau mit allen ihren Augen an / und denkt: Dich gibt’s? Dich gibt es wirklich?“

Sie hat ihre Heldin in deren Wohnort Dieulefit anlässlich einer Podiumsdiskussion getroffen und ist sofort Feuer und Flamme angesichts der blauäugigen zarten Erscheinung dieser Doyenne militanten politischen Protests und deren Biografie. Anne Weber schreibt also eine Hommage an eine Willensstarke und Unbeugsame, die ihr Privatleben in den Dienst des Glaubens an eine bessere Welt stellt und allen Enttäuschungen zum Trotz für eine Zukunft von Freiheit und Gleichheit unter den Menschen kämpft.

Formal angemessen schien der Autorin dafür kein üblicher biografisch chronologischer Abriss von Jahreszahlen, sondern das altehrwürdige Muster der Heldenepik, das wir aus der Antike, bzw. dem deutschsprachigen Mittelalter kennen. Freilich kündet davon vor allem optisch die Strophenform – Anne Weber zwängt die deutsche Sprache weder in die Schemata von Hexameter, noch Stab- bzw. Paarreim. Ihre Prosa atmet in durchgängig fließendem Rhythmus, der französische Begriffe, Einschübe und sublime Ironie erlaubt. Sie werden es hören, wenn Miriam Zeller* einige Passagen aus diesem „Heldinnenepos“ liest.

Die Französin Anne Beaumanoir – im Buch Annette genannt –, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen am Ärmelkanal, ist 13 Jahre alt, als sie der Front Populaire, der Volksfront, begegnet und vom politischen Geschehen nicht mehr loskommt. 1940 beginnt der Westfeldzug der deutschen Armee und im Sommer schon ist Frankreich ein besetztes Land.

 

Annette hat sich als Kommunistin der Résistance angeschlossen. Sie lebt inzwischen in Paris, wo sie einen Mann trifft, den sie nach Willen ihrer Partei nicht so hätte kennenlernen sollen, wie sie es tat. „Er heißt Roland“.

 

Annette und Roland agieren im Untergrund und dort ist weder Zeit noch Ort, das eigene Kindchen, mit dem sie schwanger ist, auf die Welt zu bringen. Sie müssen andere Kinder retten, jüdische, die sie eine Zeitlang verstecken – dann wird das Paar getrennt.

 

Bis Kriegsende ist Annette für die Résistance in ganz Frankreich als Botin und Spionin unterwegs, heiratet blitzschnell mal einen, der sie liebt und wird ebenso rasch wieder geschieden, als sie – inzwischen 23 Jahre alt – ihre zweite Ehe eingeht. „Diesmal passt alles gut“. Sie, die zwischendurch ein Medizinstudium absolviert hat, heiratet Joseph, einen Kollegen und Kommunisten. „Ärztin, Neurophysiologin, Mutter von zwei Söhnen wird Annette nebenbei.“ Sie fährt nach Algerien – zunächst noch in die Ferien. Dort  aber schließt sie sich der algerischen Befreiungsfront (FLN) als „Kofferträgerin“ an: Geld wird für den Freiheitskampf – nun gegen die Franzosen – gebraucht  und muss ins Land gebracht werden. Lange kann das nicht gut gehen. Annette wird erwischt und inhaftiert. Ihre erneute Schwangerschaft verhilft zur zeitweisen Freilassung. Die Zeit nutzt Annette zur Geburt eines Mädchens und für eine Flucht nach Tunis. Auch dort träumt sie noch „den Traum eines sozialistischen, gerechten Landes“ …

 

Und noch einmal ist Annette – dreifache Mutter, die ihre Kinder nicht sehen kann, politische Aktivistin, die nicht nur von einer Seite aus verfolgt wird – verliebt. Als sich Algerien in die Unabhängigkeit gekämpft hat, wird sie mit ins Regierungsboot geholt. Die Europäerin Annette, mit einem muslimischen Araber zusammenlebend, erhält ein Ressort im Gesundheitsministerium. Als sie algerische Staatsbürgerin wird, ist es jedoch mit Amaras Liebe vorbei. „… Annette hat einen hohen Posten und er keinen, auch wenn er keinen will, ist das fürs Ich oder fürs Ego nicht gerade ideal.“ Auch mit dem befreiten Staat geht es bergab in eine drohende Militärdiktatur. Annette verlässt das Land, „für dessen Bestehen sie Gefängnis und Exil in Kauf genommen hat.“ Und wohin jetzt? In die Schweiz – nicht, weil von den Eidgenossen am allerwenigsten ein Staatstreich zu erwarten wäre, sondern, weil man in Genf Französisch spricht, sie dort Leiterin einer Klinik werden kann, und die Stadt (verglichen mit Kuba) immer noch am nächsten zu Marseille liegt, wo die Kinder leben.

30 Jahre später klingt das so und verbindet die gefahrvolle Geschichte der Anne Beaumanoir mit einer fasziniert zuhörenden Autorin Anne Weber.

 

Dieser Frage geht Anne Weber augenblicks nach, recherchiert und lässt sich erzählen, denn …

 

Anne Weber, die an der Pariser Sorbonne französische Literaturwissenschaft studiert hat, kennt neben der taffen Frau Beaumanoir auch den Kollegen Albert Camus und widmet ihm ihr Schlusswort. Es lebe Sisyphos!                                                                                                                                                                            Text: Viola Bolduan

 

Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“. Matthes & Seitz, Berlin. 207 Seiten. 22 €.

Der Förderverein Literaturhaus Wiesbaden dankt dem Verlag Matthes & Seitz für die freundliche Genehmigung der Hör-Beispiele und deren Sprecherin Miriam Zeller. Der Förderverein Literaturhaus Wiesbaden dankt ebenfalls dem Wiesbadener Kulturamt für finanzielle Unterstützung.

*Miriam Zeller (24) absolvierte ihr Schauspielstudium im Sommer 2018 an der Wiesbadener Schule für Schauspiel. Während des Studiums hatte sie u.a. Gastauftritte im Staatstheater Wiesbaden. Sie arbeitet seit 2019 als freischaffende Schauspielerin und Sprecherin in der Freien Szene Wiesbaden.