Armin Wühle: „Getriebene“

05.03.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Zum All-Inclusive-Preis lassen sich Bildungsbürger und Partyvolk einen schönen Schauer über den Rücken jagen: Statt der Weltreise setzen sie zur Abwechslung auf Kriegstourismus. In Sarajewo übernachten sie im „Warhostel“, einem Bunker aus dem Bosnienkrieg, schlechte Luft und Bombengeräusche inklusive. In Syrien ist der Krieg sogar Gegenwart und teurer: Drei Tage kosten ein kleines Vermögen. Dafür werden auch Schießereien inszeniert, falls man Pech hat und die Waffen gerade schweigen.

Vor diesem düsteren Hintergrund bundesdeutscher Wirklichkeit gelang dem Autor Armin Wühle ein außerordentlicher Debütroman, der jetzt bei Marix Literatur im Römerwegverlag erschienen ist. „Getriebene“ spielt in der fiktiven Stadt Thikro. Reisende flanieren zwischen Ruinen. Eine Aussichtsplattform bietet Blicke über die Demarkationslinie.

Der Journalist Vincent fliegt nach Thikro. Er hat sich gut vorbereitet. Über mehrere Stunden hatte er Filmmaterial gesichtet. So scheint es ihm, als kehre er nach Thikro zurück, obwohl er noch nie dort gewesen war.

Hören Sie nun, was Vincent erlebt, nachdem er das Ziel seiner Recherchereise erreicht hat:


Die Aktivistin Cora ist lange vor Vincent nach Thikro gekommen, weil sie Flüchtlingen helfen wollte, die in den Camps rund um Thikro leben. Sie, die an eine geordnete Hilfestellung der Weltgemeinschaft in einem Krisengebiet geglaubt hatte, muss erleben wie ein Großteil der Camps geräumt werden, die von den Betroffenen in Eigenregie gebaut wurden. Damit wird der Aktivistin der Boden unter den Füßen weggezogen. Die NGO kündigt ihr – mangels Klienten.

Cora will nicht aufgeben – nach Hause zurückzukehren, kommt für sie aus einem bestimmten Grund nicht in Frage. Sie nimmt einen Job in einem Hotel an, bei einem ausbeuterischen Arbeitgeber, der „aus dem Krieg einen verdammten Zoo macht“, wie es in dem Roman heißt. Cora erinnert sich, wie sie bei der Hilfsorganisation zweitweise über vierzehn Stunden am Tag gearbeitet hat und das mit Freude. Abends war sie todmüde, aber zufrieden. Jetzt, an der Poolbar des Hotels, sind die Arbeitszeiten kaum kürzer. Im Rückblick würde sie jede dieser Wochen im Camp für eine einzige Poolbar-Schicht eintauschen.

Cora verachtet die Hotelgäste, die den Kriegstourismus durch ihre Kaufkraft erst möglich machen. Zitat aus dem Buch: „In solchen Momenten fragte sie sich, wer mehr Verantwortung für diese Groteske trug – der Anbieter oder der Konsument.“

Hören Sie, was passiert, als Cora im Hotel auf eine ehemalige Schülerin trifft, der sie Englischunterricht erteilt hat, in der Hoffnung, ihr dadurch eine Chance im Leben zu eröffnen:


Die dritte Hauptfigur im Buch ist Milo, der Dolmetscher, den Vincent für seine Recherchen braucht. Milo ist fasziniert von dem sieben Jahre älteren Mahmu, von dem es in Thikro verächtlich heißt, er sei eine Schwuchtel. Milo hört, wie Witze über Mahmu gerissen werden, er hört, dass der Vater seinen Sohn aus der Wohnung warf, als er davon erfuhr. Milo sucht die Nähe des Älteren und hofft zugleich, dass sein Schicksal leichter wird. Aber es wird nicht leichter – schon gar nicht, als er auch noch den Verlust der ersten Liebe erleidet, die im Buch unendlich zart und poetisch beschrieben wird.

Text: Ingeborg Toth


Armin Wühle: „Getriebene“, Roman. Marix Verlag, Wiesbaden 2021.  360 S., gebunden mit Schutzumschlag, 20 Euro


Zu Armin Wühle:
Der Autor Armin Wühle wurde 1991 in Ebersberg bei München geboren. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim sowie Geschichte und Soziologie in Hannover.  Wühle war Finalist des 25. Open Mike und Stipendiat des Klagenfurter Literaturkurses. Im Jahr 2016 wurde er Fellow der Menschenrechtsorganisation Humanity in Action in Sarajevo, 2017 folgte eine Recherchereise in den Libanon. Wühle lebt in Hannover und arbeitet u.a. als freier Journalist.

Zu Hanns Jörg Krumpholz:
Der Schauspieler Hanns Jörg Krumpholz liest die Texte dieser Podcasts. Krumpholz wurde 1962 in Bonn geboren. Nach seiner Ausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Kunst in Stuttgart trat er fast dreißig Jahre an vielen großen deutschsprachigen Theaterbühnen auf. Unter anderem an den Schauspielhäusern Zürich und Hamburg, am Schauspiel Frankfurt oder am Staatstheater Wiesbaden. Er ist zudem ein gefragter Synchronsprecher.


Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Marix Verlags (Verlagshaus Römerweg). Ihm und dem HMWK danken wir für die Unterstützung des Projekts.
Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, Projekt „Literaturdigialog Hessen“.