Benjamin Myers: Offene See

22.12.2020 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Robert, in einem englischen Bergarbeiter Dorf bei Durham aufgewachsen, begibt sich nach seinem Schulabschluss im Alter von sechzehn Jahren auf Wanderschaft. Es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der überall seine Spuren hinterlassen hat. Der Junge wünscht, aus dem von Kohle und Industrieabfall verschmutzten Milieu auszubrechen, um weiter südlich in der Landschaft von North Yorkshire unzerstörte Natur kennen zu lernen und das Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit zu erleben. Ihm steht nach seiner Rückkehr wie seinem Vater und dessen Vorfahren das harte Leben im Bergbau bevor.

Nach einer längeren Wanderung, bei der er sich unterwegs als Tagelöhner verdingt und trotzdem die Schönheit der Natur dankbar in sich aufnimmt, stößt Robert, der Ich-Erzähler, oberhalb einer Bucht an der Ostküste des Meeres auf ein einsames Cottage. – Hören Sie Hanns Jörg Krumpholz*:


Dulcie wird zu einer sein Leben ändernde Lehrmeisterin. Sie gibt ihm kluge Ratschläge, flößt ihm Selbstvertrauen ein und vermittelt ihm Zugang zur Literatur, besonders zur Lyrik.


Die Nähe Dulcies zur Poesie bleibt für den Leser zunächst ein Geheimnis, bis Robert auf ihrem Grundstück in einem „Schuppen“ – in Wirklichkeit ein ehemaliges Atelier – einen Gedichtband entdeckt. Er stammt von der deutschen Lyrikerin Romy Landau, die wie sich herausstellte – durch Robert zurückhaltend erfragt – zu Dulcie eine enge Verbindung und Liebesbeziehung hatte, bis sie sich 1940 im Meer das Leben nahm. Alte Wunden werden bei Dulcie wieder aufgerissen. Es gelingt aber Robert, Dulcie, indem er ihr Romys Gedichte nach und nach vorliest, aus ihrer Trauer herauszuführen. Dankbar bekennt Dulcie dem Jungen: „Du hast mehr getan, als du dir je vorstellen kannst, denn du hast gleich zwei Menschen zurück ins Leben geholt“. Diese Wandlung ermuntert Dulcie, Romys Gedichte herauszugeben und Robert daran teilhaben zu lassen.

Dulcie gelingt es ihrerseits, Robert eine neue Lebensperspektive zu geben. Nach einer kurzen Tätigkeit in einer Bergbaugesellschaft fühlt er sich zum Schriftsteller berufen, wobei er die meisten seiner Romane im Atelier Dulcies schreibt, das er später von ihr geerbt hat.

„Offene See“ ist der erste Roman von Benjamin Myers, der ins Deutsche übersetzt wurde und bei Dumont erschienen ist. Myers wurde 1976 in Belmont, einst ein Kohlebergdorf, jetzt ein Vorort von Durham, geboren. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften an der Universität Luton lebt er heute als freier Autor, Journalist und Lyriker mit seiner Ehefrau Adelle Stripe – ebenfalls eine Schriftstellerin – in einem Dorf in West Yorkshire.

Hans Christian Bremme


Benjamin Myers, Offene See, DuMont Buchverlag, Köln 2020 (268 Seiten, 20 Euro)

Eine von Manfred Zapatka gelesene ungekürzte Fassung liegt im Audio Verlag vor.

Wir danken beiden Verlagen als auch dem Ortsbeirat Mitte (Wiesbaden) für die Unterstützung dieses Projektes.


*Hanns Jörg Krumpholz wurde 1962 in Bonn geboren. Nach seiner Ausbildung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart war er an vielen Theatern engagiert, u.a. am Schauspielhaus Zürich, am Schauspiel Bonn, am Staatstheater Wiesbaden und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Zurzeit arbeitet er freischaffend, neben seiner Tätigkeit als Film- und Fernsehschauspieler (u. a. Tatort Münster) als Sprecher für ARTE, 3SAT, ZDF, WDR und im Synchronstudio.