Elsa Koester: „Couscous mit Zimt“

15.03.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


„Pieds-Noirs“ (Schwarzfüße), so nennt man in Frankreich die zurückgekehrten Auswanderer, die in den ehemaligen Kolonien Tunesien, Marokko und Algerien lebten und mit der Unabhängigkeit der Länder dort nicht mehr erwünscht waren. In Elsa Koesters fast 450 Seiten starkem Romandebüt „Couscous mit Zimt“, veröffentlicht in der Frankfurter Verlagsanstalt, stehen vier Frauen im Zentrum, deren Familiengeschichte entsprechend geprägt ist. Auch die Bellangers müssen Tunesien verlassen.

Lucile, die in Tunesien durch Heirat einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebt und dann ihren Mann durch ein Flugzeugunglück verloren hat, kehrt mit ihren zwei Töchtern Marie und Solange nach Frankreich zurück. Für Marie, die wie auch ihre Schwester in Tunesien geboren wurde, ist dies ein Heimatverlust, den sie ihrer Mutter nicht verzeiht. Zumal das Verhältnis zu ihr sowieso ein schwieriges ist. Denn Luciles Leben hat sich anders entwickelt, als sie sich es gewünscht hat.

Im Roman, der in einem Zeitraum von ungefähr Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts bis 2016 spielt, kommt Lucile selbst nur im Prolog zu Wort. Sie, die Mutter und Großmutter, ist 101 Jahre alt geworden.

Hören Sie Eva-Maria Damasko, die die schwierige Aufgabe meistern muss, eine sehr viel ältere Stimme zu sprechen:


Eine Eröffnung, die wie ein Schlag daherkommt. Nicht umsonst schickt die Autorin Luciles Rede als Prolog voraus. Denn im Roman befinden wir uns im Jahr 2016. Enkelin Lisa erbt die Wohnung ihrer Großmutter Lucile in Paris und fährt von Berlin aus dort hin, um sie zu verkaufen. Ihre Mutter Marie, der das Erbe zugestanden hat, ist kurz nach dem Tod von Lucile ebenfalls verstorben. Marie hat ihre Mutter gehasst, harte Vorwürfe und Anschuldigungen stehen im Raum. Lisa versucht nun vor Ort, ein wahres Bild von den Beziehungen der Frauen zu bekommen. Sie begibt sich auf Spurensuche. Das Urteil, das ihre Tante Solange über ihre Schwester fällt, ist hart: Sie sei eine große Lügnerin gewesen, eine kranke und gewalttätige Alkoholikerin.

Welche Erinnerung stimmt? Was ist wahr? Elsa Koester folgt in ihrem multiperspektivisch angelegten Roman vor allem den Stimmen Maries und Lisas, aber auch Solange und deren Tochter Charlotte kommen zu Wort. Dabei rekonstruieren sich die Geschehnisse der Vergangenheit Stück für Stück – und bleiben doch in ihrer Wahrnehmung und Erinnerung völlig verschieden. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie von Gewalt geprägt sind.

Hören Sie hier einen Leseauszug, in dem Marie zu Wort kommt. Sie erinnert sich an eine Begebenheit in Tunesien, als sie die Eltern zu einer Einladung bei einer angesehenen Familie begleitet.


Marie wird unversöhnlich, zerrissen, getrieben, Alkoholikerin, unternimmt einen Suizidversuch. Da überrascht es, dass ihre Tochter Lisa trotz all der Enttäuschungen, die sie mit ihr erlebt hat, zu einer starken Persönlichkeit geworden ist. Ganz nebenbei erfahren wir, dass sie, als sie Abitur macht, bei ihrem Vater lebt. Dieser, wie übrigens auch alle anderen Männer in der Familie, spielen in dem Roman kaum eine Rolle. Sie treten nur als Nebenfiguren auf, denen keine Stimme gegeben wird.

In der von Koester gewählten Familienaufstellung ist diese Herangehensweise konsequent. Denn es sind die Frauen, die mit einer gewalttätigen Kolonialgeschichte im Gepäck schonungslos miteinander umgehen. „Couscous mit Zimt“, das gemeinsame Familienessen, bleibt dabei die große Sehnsucht nach der intakten Welt … – Elsa Koester hat ein Romandebüt voll emotionaler Komplexität geschrieben, das mit beunruhigender Wucht daherkommt.

Text: Rita Thies


Elsa Koester: „Couscous mit Zimt“, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2020 (448 Seiten, Hardcover, 24 Euro)


Elsa Koester wurde 1984 als Tochter einer französischen Pied-noir mit tunesischer Kolonialgeschichte und eines Deutschen in Berlin geboren, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaft und arbeitet heute als Journalistin bei der Wochenzeitung „Der Freitag“.

Eva-Maria Damasko war nach ihrem Schauspiel-Diplom an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main zunächst ein Jahr als freischaffende Schauspielerin in Berlin tätig, bevor sie 2006 ihr Festengagement am Staatstheater Wiesbaden antrat. 2010 entschloss sie sich dazu, ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern und wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Seitdem arbeitet sie als Sprecherin, Schauspielerin, Autorin und Regisseurin für eigene Theater- und Musiktheaterproduktionen sowie als Gastschauspielerin an unterschiedlichen Häusern.


Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Verlagsanstalt. Ihr und dem HMWK danken wir für die Unterstützung des Projekts.

Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, Projekt „Literaturdigialog Hessen“.