George Orwells „1984“ – neu übersetzt von Frank Heibert

28.04.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


2020 jährte sich der 70. Todestag George Orwells und damit wurden seine Werke gemeinfrei. Auf dem deutschen Buchmarkt legen deshalb gleich mehrere Verlage in ihrem Frühjahrsprogramm „Die Farm der Tiere“ (2) und „1984“ (7) in neuen Ausgaben vor. Nicht ohne Grund, denn beide Romane bleiben brandaktuell: Orwell erzählt sehr anschaulich von den Mechanismen, die ein totalitäres System bauen.

Orwell beendete „1984“ im Jahr 1948 und entwarf in dem Roman eine Dystopie für eine Zukunft, die rein zeitlich gesehen für uns heute sogar schon ein wenig weiter entfernt in der Vergangenheit liegt als sie die Welt damals noch vor sich hatte. In der öffentlichen Rezeption des vergangenen dreiviertel Jahrhunderts wird mit dem Werk vor allem das Bild vom absoluten Überwachungsstaat assoziiert, der die Menschen mittels Technik rund um die Uhr und überall kontrolliert („Big brother is watching you“). Der von Orwell beschriebenen Technik sind wir in den Möglichkeiten schon weit voraus. So hat der Roman sicher auch seinen Anteil am kritischen Diskurs im Umgang mit bestimmten Technologien.

Neue Aufmerksamkeit hat der Roman in den westlichen Demokratien u.a. auch durch Trump bzw. den Trumpismus erhalten, der Lügen als „alternative Fakten“ bezeichnet oder unangenehme Wahrheiten als „fake news“ betitelt. Denn die Stärke von „1984“ liegt u.a. auch darin, wie konkret und allgemeinverständlich im Roman die Zusammenhänge von Sprache, Ideologie und Denken veranschaulicht werden.

Im „Wahrheitsministerium“, in dem der Protagonist Winston Smith arbeitet, wird die Geschichte in allen zugänglichen Dokumenten im Nachhinein umgeschrieben und gleichzeitig wird bei den Menschen durch sprachliche Umerziehung dafür gesorgt, dass auf Dauer alle Erinnerung ausgelöscht wird. So führt die Staatspartei „Neusprech“ ein, es soll bis 2050 die bisherige Sprache vollkommen abgelöst haben. Denn Gedanken, die nicht mit der Ideologie des Staates übereinstimmen, sollen einfach nicht mehr gedacht werden können. Die Bedeutung von Wörtern wird geändert, andere werden zerstört, gestrichen, „Neusprech“ will die Reichweite des Denkens reduzieren. Leerformeln bestimmen den Sprachgebrauch, zerstören Begriffe, das Sprechen soll vom Bewusstsein abgekoppelt werden.

Allein um sich die verschiedenen perfiden Methoden der Wirklichkeitsbeeinflussung durch Sprachlenkung und den öffentlichen Missbrauch von Sprache unterhaltsam noch einmal vor Augen zu führen, lohnt sich das (erneute) Lesen von „1984“. Denn es ist ein literarischer Blick in den Handwerkskasten von Diktatoren, Autokraten und Populisten.

Mir gefällt an der Übersetzung von Frank Heibert besonders, dass er bei der Übersetzung des Romans das Präsens gewählt hat. Das mag einige Rezensenten zwar stören, da dies eine Abweichung vom Erzähltempus des Originals ist. Heibert erläutert seine Änderungen im Nachwort sehr deutlich, er nehme sich „eine relative Freiheit, aber im Sinne Orwells, der maximal aufrütteln und erschüttern wollte.“ – Ich finde, das ist dem Übersetzer gelungen, denn er erreicht durch die Erzählung im Präsens für heutige Leser*innen eine größere Unmittelbarkeit. Und solange die Übersetzung mit den Ausführungen Heiberts aufgelegt wird, ist dies Verfahren auch nicht zu beanstanden.

Doch hören Sie selbst. Andreas Mach liest das erste Kapitel:

Text: Rita Thies


George Orwell, 1984. Neuübersetzung von Frank Heibert. Erschienen bei S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2021 (Taschenbuch 335 Seiten, 12 Euro)

Andreas Mach (Jg.1957), in den 90er Jahren Ensemblemitglied am Staatstheater Wiesbaden, lehrt an der Hochschule für darstellende Kunst in Frankfurt und arbeitet als freischaffender Schauspieler und Regisseur.


Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH. Ihr und dem HMWK danken wir für die Unterstützung des Projekts.

Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, Projekt „Literaturdigialog Hessen“.