Ein merkwürdiges Buch. Formal ungewöhnlich. Der Autor (Jakob Stein) lässt einen Erzähler, der real ist (Hans Hübner, Zahnarzt), in eine fiktive Biografie (Hans Hübner, Rechtsanwalt) wechseln und von dort aus das reale Leben des Henry Jäger (prominenter Gangster, prominenter Schriftsteller) beschreiben, erzählen, deuten, bewerten. Eine ehrgeizige Verarbeitung eines in der Tat spannenden Stoffs. Manchmal verliert man ein wenig die Orientierung, weil der offensichtlich alt gewordene Erzähler einen Ansprechpartner hat, der ihn in Ascona (Tessin, Schweiz) – man ahnt es spät – ins Sterben begleiten soll. Man weiß nicht immer, wo man gerade ist und an welcher Lebensphase des ‚Gröschaz‘ man als Leser teilhat.
Henry Jäger ist mit ‚schillernde Figur der deutschen Nachkriegszeit‘ nur matt beschrieben.
Der Hitlerjunge an der Flak, der nach 1945 mit seinem Notabitur nicht studieren durfte, der in den rechtsfreien Räumen der Nachkriegszeit jene Gerissenheit entwickelte, die ihm bei seinen späteren Verbrechen helfen würde, war durch nichts zu bremsen. Auch Missgeschicke warfen ihn nicht aus der Bahn. Karl-Heinz Jäger, den alle „Henry“ riefen, führte den Staat jahrelang mit seinen durchgeplanten, aber durchaus gewaltsamen Raubzügen an der Nase herum.
Immer wieder waren die Fluchtautos der nach ihm benannten ‚Jäger-Bande‘ schneller als die Käfer der Polizei. Aber er weckte den Ehrgeiz von Ermittlern und Staatsanwälten, die sich bundesweit in den fünfziger Jahren auf ihn ‚einschossen‘.
Der Festnahme folgte die Verurteilung wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Freiheitsentzug.
In dieser Zeit gab es noch die Zuchthaus-Strafe. Also Gefängnis ohne Kontakt zu anderen, kein Umschluss, keine Bücher, stark eingeschränkter Besuch. Nur der Gefängnisseelsorger durfte zu Henry Jäger. Und er schleppte die auf Toilettenpapier gekritzelten Texte aus der Anstalt heraus. Daraus wurde der Henry-Jäger-Roman „Die Festung“, verlegt vom Desch-Verlag.
Und es wurde ein Erfolg, mit zahlreichen Neuauflagen und internationalen Lizenzausgaben.
Henry Jäger, der Bankräuber und Gewalttäter, war auf dem Weg ein gefeierter Schriftsteller zu werden.
Weitere Bucherfolge folgten. Es hätte eine Traumstory werden können für Henry Jäger, wäre da nicht die eigene Vergangenheit, die ihn immer wieder einholte, wären da nicht die vielen Beziehungsprobleme, die er immer wieder anzettelte, wäre da nicht die Scheinheiligkeit und die Missgunst seiner Umgebung gewesen. Er konnte sich jetzt den Tessin leisten, ein Haus in Ascona am Lago Maggiore, ohne Banken zu überfallen. Er trank Whisky mit Hans Habe, Champagner mit Remarque, er hatte Sex mit Hildegard Knef und seine Autorenvorschüsse und Lizenzeinkünfte gab er so aus, als wäre es Beute aus seinen früheren Raubzügen.
Henry Jäger wurde in Ascona und anderswo von der Künstler- und Literaturszene als originelle Belustigung benutzt, aber nie anerkannt—was auch ein Licht auf die Szene zurückwirft. Ihn ‚Gröschaz‘ zu nennen, „Größter Schriftsteller aller Zeiten“, darin steckte auch der Versuch, sich von ihm zu distanzieren.
Wirklich: Ungewöhnliche 350 Seiten, dieses fünfte Buch von Jakob Stein. Marcel Reich-Ranicki hätte dazu gesagt: Das ist keine Literatur. Hyperventilativer Satzbau, nur selten eine tiefgründige Zusammenführung von Psychologie und Soziologie, an vielen Stellen begnügt sich der Autor – seinem eigenen zwiebelschichtigen Schreibkonzept geschuldet – mit Alltagsweisheiten.
Dennoch, ein großer Stoff, und – auch das muss man sagen – spannend aufgezogen. Man möchte weiter recherchieren in diesem Schicksal dieses Henry Jäger, dem man sich auf so seltsame Weise unerlaubt verbunden fühlt. Wenn gute Filme so sind, wie wir (!) gerne sein möchten, dann ist dieses Buch: geschriebenes Hollywood.
Text: Armin Conrad
Jakob Stein: „Der Gröschaz“. Ein Roman über Henry Jaeger, den Größten Schriftsteller aller Zeiten. B3 Verlags und Vertriebs GmbH Frankfurt, 2019. 360 Seiten. 19,90 Euro)
Ulrich Cyran, 1956 in Erwitte geboren, absolvierte seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Als Theater-Schauspieler war er u.a. am Staatstheater Wiesbaden und Darmstadt, an der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel, den Sophiensälen in Berlin und am Mousonturm in Frankfurt zu sehen. Seit vielen Jahren steht er vor der Kamera, u. a.in der Fernseh-Krimireihe „Tatort“, in der Filmkomödie „Vorwärts Immer“ von Franziska Meletzky und in „Südstadt“ von Matti Geschonneck. In den letzten zwei Jahren spielte er am Staatstheater Darmstadt, Pfalztheater Kaiserslautern und aktuell am Staatstheater Mainz und an der HfMdK Frankfurt spielte er die Titelrolle aus Büchners Lenz. Aktuell steht er für die ZDFneo Serie Void vor der Kamera.
Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der B3 Verlags und Vertriebs GmbH. Ihr und dem HMWK danken für die Unterstützung des Projekts.
Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, Projekt „Literaturdigialog Hessen“.