Margit Schreiner: „Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen“

23.03.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Vater. Mutter. Kind. Ein Kinderspiel. Wird immer noch gern gespielt, in der Kita, im Sandkasten. Die Idealvorstellung, das Idyll. Warum dann aber Kriegserklärung? Wem gilt diese? Auf jeden Fall hat die Siebenjährige, die hier von Margit Schreiner in ihren Lebenserinnerungen vorgestellt wird, solche Kriegserklärungen im Kopf. Schließlich beginnt in diesem Lebensjahr der so genannte „Ernst des Lebens“, man kommt zur Schule, man muss sich „stellen“, mit seinen ganzen Unzulänglichkeiten- Während man vorher noch einfach auf der Teppichstange herumbalancieren durfte, muss man sich plötzlich beim Völkerball an Regeln halten, wird man gnadenlos darauf aufmerksam gemacht, was man noch nicht kann, wenn man beim Einkauf der Süßigkeiten nicht annähernd so viel bekommt, wie man sich vorher „ausgerechnet“ hat. Zum Beispiel.  Solche und viele andere Geschichten erinnert Margit Schreiner, wenn sie über die Siebenjährige schreibt, die sie einmal war. Aber sie verschränkt diese Lebenserinnerung gleichzeitig mit ihren Erfahrungen, die sie selbst im Pensionsalter, in ihrem siebten Lebensjahrzehnt macht. Als Autorin geht man zwar nicht in Pension, wie sie schreibt. Aber eine Herausforderung ist diese Phase im Leben auch. So gerät man ständig an seine körperlichen Grenzen bzw. wird daran erinnert. Dabei kann es nicht schaden, wenn ein junger Germanist für ein Interview vorbeischaut, sich für ihre Vorgehensweise beim Schreiben interessiert und dabei auch noch erstaunliches Wissen über die 68er Jahre zeigt. – Es liest Franziska Geyer:


Ja, eigenartig eigentlich, dieser vermeintliche Kontrollverlust beim Schreiben. Und überhaupt diese Offenheit. Margit Schreiner lädt uns ein in ihr Leben, ihr heutiges, aktuelles und in das ihrer Kindheit in den frühen 60er Jahren. Dabei geht es durchweg humorvoll zu, wie wir gerade gehört haben, ihre Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber ist immer gespickt mit einer gehörigen Portion Selbstironie, und mit diesem Kunstgriff hält sie sich uns, die Leserinnen und Leser, auch wieder vom Leib. Und außerdem – wissen wir denn, wie „wahrhaftig“ diese Erinnerungen sind? Und ist „richtiges“ Erinnern überhaupt möglich? Dass die Geschichten der Grundschülerin in diesem Buch nicht eins zu eins nacherzählt werden, ist klar, sie werden erzählerisch inszeniert. Die Autorin spricht zwar von sich selbst, aber das tut sie gleichzeitig als allwissende Erzählerin, die natürlich viel mehr weiß als die Siebenjährige damals wissen konnte. Fest steht, dass sie in einer merkwürdigen Zeit aufgewachsen ist, den 60er Jahren, die sie doch sehr widersprüchlich, vor allem im Verhalten der Eltern gegenüber den Kindern erlebt hat:


Es war tatsächlich auch eine Zeit der Sprachlosigkeit. Fragen sollten nicht unbedingt gestellt werden und schon gar nicht von neugierigen Kindern, die sich aber für nichts mehr interessierten als für die kleinen Abweichungen im Alltäglichen. Sie bekamen aber ohnehin alles mit, waren richtige „Spione (Aufklärer im Krieg)“ und verstanden überhaupt nicht, warum sie ihr „Wissen“ nicht weitertragen sollten.

Aber die 60er waren auch eine Zeit, in der die Rollenverteilung innerhalb der Familie so festgezurrt war, wie wir es uns heute einerseits nicht mehr vorstellen können und auch nicht wollen.  Dabei rechnet die Autorin auch mit der Elterngeneration ab, vor allem den Frauen, indem sie schildert, wie nervig und gleichzeitig ängstlich diese Mütter waren, am liebsten alles verboten, aber eigentlich zeigt sie, wie beide Geschlechter in ihren Rollen gefangen waren.


Wir haben es gehört: Was dieses Buch, diese große Erinnerungsarbeit nicht nur zu einer vergnüglichen Lektüre macht, ist das Nebeneinander von Witz und Ernst, Leichtigkeit und Verstörung. Das und die Art und Weise, in der Margit Schreiner die beiden Lebensphasen miteinander verschränkt, dass wir ihr so gerne folgen, macht ihre ganze Kunst aus.

Text: Anita Djafari


Margit Schreiner: Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen. Über das Private. Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt a. M. 2021 (223 Seiten, 22 Euro)


Anita Djafari, vormals Geschäftsführerin Litprom e.V., ist Literaturvermittlerin mit unermüdlichem Engagement für Weltliteratur.

Franziska Geyer war nach dem Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch” u.a. am Hebbeltheater Berlin, am Stadttheater Würzburg, an den Bühnen der Stadt Bonn und am Staatstheater Wiesbaden engagiert. Seit 2008 arbeitet die Schauspielerin freiberuflich und entwickelt u.a. Theaterperformances mit jungen Menschen, z.B. mit Migrantinnen des SABA Stipendiums der Crespo Stiftung im LAB Frankfurt.


Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH.  Ihr und dem HMWK danken wir für die Unterstützung des Projekts.

Besonders bedanken wir uns bei Tina Walz vom Hörbuchverlag derDiwan für ihr großzügiges Entgegenkommen. Der Verlag hat das Hörbuch zum Buch mit der Schauspielerin Barbara Stoll produziert. Hier der Link https://der-diwan.de/schreiner-kriegserklaerungen//

Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, unser Projekt „Literaturdigialog Hessen“