Otto de Kat „Freetown“

20.10.2020 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


„Sie hat Ishmael gefunden, ich niemanden und nichts mehr“, denkt Vincent, der männliche Part in Otto de Kats Roman „Freetown“. ,Sie‘ heißt Maria, die Ishmael, einen Flüchtling aus Freetown in Sierra Leone, lange Zeit betreut hat. Vincent und Maria waren vor neun Jahren ein Liebespaar, und als der Junge aus Afrika unvermittelt verschwindet, will Maria mit Vincent, einem professionellen Psychologen, über den Verlust sprechen.

Der Autor hat eine ähnliche Situation selbst erlebt – Otto de Kat* hatte, wie er den autobiografischen Ausgangspunkt seines Romans benennt, vor Langem einmal einen Flüchtlingsjungen aufgenommen, der Jahre später von einem auf den anderen Tag nicht mehr auftauchte. Otto de Kat: „Das ist also das zentrale Thema im Roman, das auch für mich persönlich so nahe am Herzen liegt.“  Seine beiden Figuren, Vincent und Maria, dagegen seien rein fiktiv wie auch die Romanhandlung.

Diese Handlung entspinnt sich in der dramaturgisch geschickten Struktur wechselnder Perspektiven. In aufeinanderfolgenden inneren Monologen erfahren wir von den Gedanken und Gefühlen der beiden Hauptfiguren.

In der folgenden Lesung mit Andreas Mach* hören Sie von Vincents erstem Auftritt im Buch, nachdem Maria ihn um ein Treffen gebeten hat.

 

Maria sitzt neben Vincent, weil sie sich vom verlorenen Geliebten eine Erklärung des verloren gegangenen Flüchtlingsjungen erhofft. Deutlicher als sie erkennt er die Parallele und rekapituliert beider Beziehung, die er aus Angst, dass die Liebe ihn überwältige, beendet hatte. Jetzt aber zieht er sich einmal nicht zurück, sondern macht sich für Maria in Afrika auf die Suche nach dem verschwundenen Jungen. Das hat sie vergebens bereits getan, und auch er wird keinen Erfolg haben. Auf seinem Rückflug schreibt er einen Brief an Maria.

Andreas Mach liest aus diesem letzten Vincent-Kapitel:

 

„Wie gern würde ich dich einmal nach Rom mitnehmen“. Es werden Vincents letzte Worte an Maria sein. Als sie ihn zu Hause wiedersehen will, trifft sie auf seine Ehefrau mit einer Nachricht, die Sie selbst im Buch lesen sollten …

Autor Otto de Kat sagt über Vincent: „Er ist ein Mann, der seine Ideale verloren und seine große Liebe verlassen hat. Aus der plötzlichen Begegnung mit Maria strömt das alte Leben wieder wie neu in sein Herz hinein. Und das Herz bricht …“

„Freetown“ führt in die innere Welt seiner Figuren, die bestimmt wird von Erinnerungen an vergangenes Glück, einer Suche nach Orientierung und Möglichkeit einer Balance zwischen Vergangenheit und Künftigem. Das gelingt nicht beiden Hauptpersonen. Vincents Sehnsucht gilt der Auflösung – Marias einer Vervollständigung. Vincent hängt der Vergangenheit nach – Maria möchte sich im Realen wiederfinden. Und in diese Geschichte eines älteren Liebespaares verwebt Autor Otto de Kat das Schicksal eines Flüchtlings, das das Thema der Fremdheit unter Menschen, in aller Behutsamkeit des Erzählers, doch nachdrücklich betont. Vincent, den wir in den Podcasts gehört haben, spricht vom Schweben – und befindet sich damit im Gleichklang mit dem gesamten Ton des Romans.                                                                            Viola Bolduan

Der Förderverein Literaturhaus Wiesbaden dankt dem Ortsbeirat Südost für seine Unterstützung.

Otto de Kat: „Freetown“. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Schöffling & Co. Frankfurt. 168 Seiten. 2019. 20 €.

 

*Otto de Kat ist das Autoren-Pseudonym für den niederländischen Autor Jan Geurt Gaarlandt. Er arbeitete als Literaturkritiker und Verleger, bevor sein erster Roman 2003 in deutscher Übersetzung „Mann aus der Ferne“ erschien. Es folgten u.a. „Sehnsucht nach Kapstadt“ und „Eine Tochter in Berlin“.

*Andreas Mach (Jg 1957) hat Schauspiel an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin studiert, danach an verschiedenen Theatern in Berlin gespielt und war in den 90er Jahren in der legendären Peter Kupke/Annegret Ritzel-Ära fest im Ensemble des Wiesbadener Staatstheaters engagiert. Danach arbeitete er am Mainzer Schauspiel, übernahm Regieaufgaben, u.a. für die Burghofspiele in Eltville und leitete von 1993 bis 2016 die Schauspielschule Mainz. Er lehrt als Dozent an der Hochschule für darstellende Kunst in Frankfurt und tritt als freischaffender Schauspieler und Regisseur in Film und Fernsehen auf. Andreas Mach lebt in Wiesbaden.