Peggy Mädler: Wohin wir gehen

23.11.2020 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden



Drei Generationen, drei politische Systeme, drei Freundinnenpaare und ihre Geschichte über fast 100 Jahre … Strukturiert wird dieser komplexe Stoff durch eine, wie die Autorin selbst sagt „Ortsdramaturgie“, in der die Protagonistinnen in jedem Kapitel neu ankommen.

Da ist zunächst Martha, die mit ihrer deutschnationalen Familie bricht, weil sie in Böhmen in den 1930er Jahren einen Tschechen heiratet und mit ihm nach Brünn (später Brno) zieht. Dort lernt sie die in der kommunistischen Partei aktive Ida kennen, die beiden Töchter, Rosa und Almut, werden beste Freundinnen. Sie müssen nach Kriegsende das Land verlassen, Ida nimmt die früh verwaiste Almut als Tochter an, um mit den beiden Mädchen im Osten Deutschlands beim Aufbau eines sozialistischen Staates mitzuhelfen, erst in einem kleinen brandenburgischen Ort, später in Ostberlin. Ida macht Parteikarriere, Rosa, zwei Jahre älter als Almut und die kritischere, geht zunehmend auf Abstand zur DDR; in ihrem Beruf als Lehrerin fühlt sie sich – anders als die Freundin – eingeengt.

Am Ende eines Ausflugs flüstert Rosa ihrer Freundin zu: „Ich muss dir noch etwas sagen. Das ist der letzte gemeinsame Tag. Bevor sich alles verändert.“

Hören Sie in der von Franziska Geyer* gelesenen Passage, welche Folgen die Entscheidung Rosas für ihre Freundin und für ihre Mutter hat.


Almut steht im Zentrum des Romans, die Geschichte ihres Lebens wird immer wieder aufgenommen, bis zu ihrem Tod im heutigen Berlin. Auch ihre Tochter Elli hat eine beste Freundin, Kristine. Diese kümmert sich um die alt gewordene Almut, und nach deren Tod sagt Elli zu ihrer Freundin: „Jetzt bist du der Mensch, der mich am längsten kennt …“ Als Motto – vielleicht auch für ihr eigenes Leben – hat Peggy Mädler ihrem Roman vier Gedichtzeilen von Hilde Domin vorangestellt: „Man muß weggehen können/und doch sein wie ein Baum:/als bliebe die Wurzel im Boden,/als zöge die Landschaft und wir ständen fest.“

Peggy Mädler hat einen schmalen, aber sehr komplexen Roman über die Anfänge der DDR und ihr Ende, übers Abschied nehmen und Losgehen, über lebenslange Freundschaft, das Älterwerden und Erinnern, über Aufbrechen und Ankommen, Brüche und Umbrüche, Entwurzelung und Heimat geschrieben.

Reichlich viel, was sich die junge Autorin für dieses, ihr zweites Buch vorgenommen hat, aber sie schafft es bravourös. Das gelingt ihr vor allem durch eine knappe, lakonische Sprache, mit der sie auf den 219 Seiten private Schicksale mit großen gesellschaftlichen Veränderungen verknüpft.  Die Jury der SWR-Bestenliste lobt denn auch Peggy Mädler dafür, „deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, ohne dabei ausufernd, prätentiös oder anmaßend zu werden.“


Peggy Mädler, 1976 in Dresden geboren, hat in Berlin Theater-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft studiert und wurde 2008 mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung in Kulturwissenschaften promoviert. Sie arbeitet als freie Dramaturgin und Autorin und ist Mitbegründerin der Künstlerformation Labor für kontrafaktisches Denken (LAFT). Von 2007 bis 2009 gehörte sie dem Gründungsvorstand des LAFT Berlin an, und sie wirkt beim erfolgreichen Theater-/Performancekollektiv She She Pop mit, das 2019 beim Berliner Theatertreffen ausgezeichnet wurde. 2011 erschien ihr erster Roman: Legende vom Glück des Menschen. Mädlers zweites Buch Wohin wir gehen (2019) stand auf Platz 2 der SWR-Bestenliste und der Bestenliste des Schweizer Rundfunks „52 beste Bücher“.  2019 bekam sie den mit 40000 Euro dotierten Fontane-Literaturpreis der Fontanestadt Neuruppin und des Landes Brandenburg. In der Begründung der Jury heißt es über ihr neues Buch unter anderem: „In literarischer Perfektion beschreibt Peggy Mädler Land und Leute, ihre Seele und ihre Sehnsüchte (…) Sie braucht dabei nur wenige knappe Striche, um erzählerische Wucht zu entfalten.“

Text: Bernhard Schön

Peggy Mädler: Wohin wir gehen, Verlag Galiani Berlin, 2019


*Nach einem Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch” war Franziska Geyer u.a. am Hebbeltheater Berlin, am Stadttheater Würzburg, an den Bühnen der Stadt Bonn und am Staatstheater Wiesbaden engagiert.
Die Schauspielerin arbeitete u.a. mit Regisseur/innen wie Robert Wilson, Konstanze Lauterbach, David Mouchtar-Samurai, Jorinde Dröse, Valentin Jeker, Dietrich Hilsdorf, Jo Fabian und Herbert Fritsch.
Seit 2008 arbeitet Franziska Geyer freiberuflich und entwickelt u.a. Theaterperformances mit jungen Menschen, z.B. mit Migrantinnen des SABA Stipendiums der Crespo Stiftung im LAB Frankfurt. Demnächst arbeitet sie in dem Projekt „Entpuppt Euch“ mit jungen Geflüchteten und in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen in der Wartburg (Spielstätte Staatstheater Wiesbaden).

Wir danken dem Ortsbeirat Nordost (Wiesbaden) und dem Galiani Verlag (Verlag Kiepenheuer & Witsch) für die Unterstützung dieses Projekts.