Philipp Schönthaler: Der Weg aller Wellen

03.01.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Der Roman spielt in einer Zukunft, in der alles anders ist. Nur nicht die flirrende Hitze des Silicon Valley. Der Ich-Erzähler erlebt diese Hitze zum ersten Mal an eigenen Leib. Er steht vor den Toren eines klimatisierten Hightechunternehmens, das von Fingerprint als Identifikation auf Handvenen-Erkennung umgestellt hat. Eigentlich eine sichere Sache, aber an diesem Tag öffnet sich die Schleuse nicht. Jedenfalls nicht für diesen einen Mitarbeiter, der die Ursache für die biometrische Fehlidentifikation nicht ermitteln kann. Der in Angst gerät, wie damals in der Schule, als er Angst vor Isolation hatte. Angst, sich durch eine Ungeschicklichkeit selbst isoliert zu haben. „Das Wissen darum, dass man die Schulkameraden zurückgelassen hatte, erzeugte das flackernde Gefühl eines ungeheuren Triumphs und war zugleich von der dumpfen Sorge begleitet, sich mit der Krankschreibung von den anderen abzunabeln. In der Vorstellung, den Rest des Tages allein zu verbringen, hatten Freiheit und Furcht sich zu einem dumpfen Knäul verklumpt und im Magen festgesetzt und dort bis in den späten Nachmittag als dunkle Materie gebrütet.“

Schönthaler beschreibt einen kafkaesken Horror, der von Stunde zu Stunde wächst. Dem Ich-Erzähler fehlt die Durchsetzungsfähigkeit an der Schleuse – und ein herbeigerufener Wachdienst hilft auch nicht weiter. Die Wachleute sind externe – und benehmen sich so, wie solche Desinteressierten sich benehmen. Man kennt das.

Die anderen verlieren die Geduld, drängen zum Weitergehen.  Der Ich-Erzähler grübelt. Hören Sie selbst:


In einem Kapitel, das mit „Nabelschnurblut“ überschrieben ist, ahnt der Leser noch nicht, dass der Ich-Erzähler langsam seine Souveränität verliert und immer unfähiger wird, seine Alltagsprobleme zu lösen. Wie die Probleme mit der Bank, die ihm plötzlich die Bonität entzieht. Er glaubt, seine täglich Dosis Ritalin steigern zu müssen und geht ins Fitnessstudio, um immer exzessiver zu trainieren. Das Studio gehört zu dem Apartmenthaus, in dem er wohnt. Irgendwann schlägt auch dort der Versuch fehl, sich als Mieter an der Haustür zu identifizieren. Aber noch funktioniert er einigermaßen. Er flieg zu einem Meeting und ist „im Gedanken beim Kunden“.  Der Kollege Cesar, der mit auf dem Kundentermin gebucht war, hat seinen Flug verpasst. Der Ich-Erzähler ist auf sich selbst gestellt.


Der neue Roman Philipp Schönthalers enthält neben markierten Zitaten auch viele versteckte, eingearbeitet in Dialoge oder Monologe.  Darunter findet sich der Titel der Autobiografie von Andrew S. Grove, dem aus Ungarn emigrierten Mitbegründer von Intel: „Nur die Paranoiden überleben“. Einige nicht markierte Zitate lassen Eingeweihte erkennen, dass sie von Steve Jobs oder Paypal-Gründer Peter Thiel oder auch von Marc Zuckerberg stammen könnten. Allerdings legt sie der Autor in den Mund eines Unternehmers, der aus der Hippie-Szene kommt.  Einer, der bessere Tage gesehen hat. Ihn trifft unser Ich-Erzähler ganz zum Schluss. Die bunte Truppe baut an einem stinkenden See eine energieeffiziente Serverfarm auf, stellt interessante ökologische und – vor allem auch – soziale Experimente an.

Ingeborg Toth


Philipp Schönthaler: Der Weg aller Wellen. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 269 Seiten, 22 Euro.

Zum Autor:
Philipp Schönthaler lebt in Berlin, geboren wurde er 1976 in Stuttgart.  Er studierte zwischen 1999 und 2003 Anglistik und Kunstwissenschaft an der Trinity Western University in Vancouver, 2004 machte er seinen Master im Bereich „Moderne europäische Literatur“ an der University of Sussex. Im Jahr 2010 folgte die Promotion an der Universität Konstanz zum Thema „Negative Poetik: die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W. G. Sebald und Imre Kertész“. Von 2008 bis 2011 lehrte er an der Universität Konstanz im Fachbereich Germanistik.
Lebensklug hat er eine Auseinandersetzung mit der modernen Technologie begonnen. Er sagt: „Die Datenbanken sind unser prometheisches Feuer, das wir nehmen und umwidmen. Die Identität ist kein Problem, das sich lösen ließe, indem man sie biologisch oder ontologisch festschreibt. Sie ist ein Risiko, das gemanagt werden muss.“ Und er fragt: „Was bringen uns Technik und Digitalisierung, wenn sie zu unserer Auflösung führen?“


Zum Sprecher:
Mario Krichbaum, Schauspieler und Regisseur, geboren 1970 in Darmstadt, sagt, die Schauspielerei sei für ihn Berufung – das Regieführen habe sich zur Passion entwickelt. Nach dem Studium der Germanistik und Politik an der TU-Darmstadt nahm er in München Schauspielunterricht. Er hat zweimal den Hamlet gespielt und einmal das Shakespeare-Stück inszeniert. Als Schauspieler wirkte er in zahlreichen Filmen mit. Nach dem Lockdown wird man ihn in den Kammerspielen Wiesbaden erleben können, in „Die Wunderübung“. Zu Beginn des neuen Jahres hat er ein Engagement im Kulturpalast der Landeshauptstadt. Er spielt eine Hauptrolle in „Am Ende bleibt das Schweigen“. Schwimmen und Eislaufen gehören für den Schauspieler Mario Krichbaum zu seinen vielen sportlichen Hobbys, er wohnt und lebt in Wiesbaden.

Wir danken dem Kulturamt der Stadt Wiesbaden für die Unterstützung dieses Projekts.