Philippe Sands: „Die Rattenlinie – Ein Nazi auf der Flucht“

01.03.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


Können Nazis lieben? Wer dieses Buch gelesen hat, fühlt sich auch von dieser Frage bedrängt, selbst dann, wenn man weiß, dass der Autor etwas ganz anderes erreichen möchte. Philippe Sands, Rechtsanwalt, Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre für International Courts and Tribunals in London, ist ein grandioser, hartnäckiger Rechercheur. Wie er auf inclusive Anhang über 500 Seiten das Leben, die Nazi-Karriere, die Menschheitsverbrechen des österreichischen SS-Obergruppenführers Otto Wächter, seine rätselhafte Flucht nach Rom und seinen Tod in den Armen eines vatikanischen Bischofs, chirurgisch zerlegt und danach immer wieder puzzlehaft zusammenfügt, ist ausgezeichnete Sachbuchliteratur.

Lapidar schildert er die Sicht auf die Welt, die man hat, wenn man überzeugter Nazi ist, besessen von Ressentiments und immer wieder in Gefühlsduseleien taumelnd. Philippe Sands Quelle sind die Briefe und Tagebücher, die Otto Wächter und seine Frau Charlotte zurückgelassen haben. Sie werfen ein Licht auf das Momentum, das beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich herrschte.

Es liest Ulrich Cyran*.


Charlotte und Otto Wächter genossen ihr Leben und die Nähe zu der direkten Entourage Hitlers. Himmler kam immer wieder und brachte was für die Kinder mit. Seyß-Inquart, der Gouverneur der Niederlande, wurde Taufpate, Göring, von Schirach u.a. waren Gäste im Hause Wächter, auch bei den nächsten Stationen seiner Karriere, in Krakau und Lemberg. Dort residierte er als Gouverneur für das Gebiet Polen/Ukraine, das sogenannte Generalgouvernements (Polen/Ukraine). Ab 1944 wurde es eng. Die Bastionen des schönen Lebens mussten preisgegeben werden. Das Ehepaar Wächter, trotz seiner zahllosen Affären mit anderen Frauen symbiotisch verbunden, ging mit sechs Kindern ins Rückzugsgefecht.


In der internationalen Presse wurde Otto Wächter nach dem Krieg der „Schlächter von Lemberg“ genannt, als Gouverneur seines Gebietes direkt verantwortlich für mehr als 100.000 Morde an überwiegend jüdischen Pol*innen und Ukrainer*innen. Auf seiner Flucht vor den Alliierten schlug er sich über Bergütten in Südtriol bis nach Rom, wo er fortan unter vatikanischer ‚Betreuung’ weilte. Weltweit wurde nach ihm gefahndet, erfolglos, denn er starb im Juli 1949 in Rom unter ungeklärten Umständen. Umstände, die Philippe Sands in diesem bewegenden Buch gemeinsam mit Horst Wächter, dem Sohn von Charlotte und Otto, bis ins letzte ausleuchtet und dabei auch die Frage klärt, ob es Mord war und wer Grund hatte, ihn umzubringen.

Ein wirklich bewegendes, nochmal: recherchestarkes, einfühlsames Buch, das Philippe Sands vorlegt, offenbar erst jetzt möglich, mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach den Ereignissen. Fast nebenbei wird noch Beweis geführt wird, wie sehr die ‚Rattenlinie‘, die Fluchtroute, die für die meisten Nazis in Südamerika ihr Ende hatte, von den USA gesponsert wurde und wie viele hohe Nazis ebenso wie Kurienmitarbeiter auf der Payroll der US-Geheimdienste standen.

Text: Armin Conrad


Philippe Sands, Die Rattenlinie – Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit. 540 Seiten inklusive Anhang/Register. S. Fischer-Verlag 2020


*Ulrich Cyran, 1956 in Erwitte geboren, absolvierte seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Als Theater-Schauspieler war er u.a. am Staatstheater Wiesbaden und Darmstadt, an der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel, den Sophiensälen in Berlin und am Mousonturm in Frankfurt zu sehen. Seit vielen Jahren steht er vor der Kamera, u. a. in der Fernseh-Krimireihe „Tatort“, in der Filmkomödie „Vorwärts Immer“ von Franziska Meletzky und in „Südstadt“ von Matti Geschonneck. In den letzten zwei Jahren spielte er am Staatstheater Darmstadt, Pfalztheater Kaiserslautern und aktuell am Staatstheater Mainz und an der HfMdK Frankfurt spielte er die Titelrolle aus Büchners Lenz. Aktuell steht er für die ZDFneo Serie „Void“ vor der Kamera.

Die Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags. Ihm und dem HMWK danken wir für die Unterstützung dieses Projekts. Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“, Projekt „Literaturdigialog Hessen“