„Übberichens“ – von Ulrike Neradt, Leo Gros, Markus Molitor und Helga Simon

15.02.2021 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden


„Überredt!“

Es lebe die Völkerverständigung! Dazu sollten sich die Völker natürlich auch verständigen können. Nicht immer gelingt das auf Anhieb. Was dann folgt oder folgen sollte, nennt man Volksbildung, nicht etwa deshalb, weil ein Volk gebildet, also hergestellt oder produziert wird, sondern weil es reicher an Bildung wird. Als gebürtiger Niederbayer kann ich davon gar nicht genug bekommen.

Ich stamme aus einem Sprachgebiet, in dem man auf höchstmögliche sprachliche Effizienz achtet. Für: „Ich habe Sie leider nicht ganz verstanden; könnten Sie bitte Ihren letzten Satz noch einmal wiederholen?“ reicht dort aus: „Ha!!?“ In gebildeteren Familien unterweist man die Kinder natürlich in grundlegenden Benimmregeln: „Des hoaßt net ‚Ha!?‘, des hoaßt ‚Wos!?‘!!“

Nicht zufällig stammt die kürzeste Liebesgeschichte Europas aus meiner Heimatregion:
ER: „Mogst?“
SIE: „Überredt.“ (siehe Übersetzung am Ende des Textes)*

Vielleicht ahnen die Leser*innen schon das Ausmaß meines Kulturschocks beim Herzug in den Rheingau. Ich hatte jahrelang größte Mühe, aus den Wortgirlanden und Geschichten-Reben einheimischer „native speakers“ die Kernbotschaften heraus zu pflücken.

Ein wesentlicher Baustein zum Gelingen der Völkerverständigung ist – neben Toleranz (lat.: tolerantia: „geduldiges Ertragen“) – die Kenntnis von Kultur und Geschichte des Landes, in das man eingewandert ist. Und hier kommt nun „Übberichens…“ ins Spiel, jener kostbare Beitrag zu Fort- und Weiterbildung eingewanderter Volksstämme. Soweit ich die Botschaften in dem Büchlein bisher entziffern konnte, dient „Übberichens …“ einem einzigen Zweck: Man erfährt etwas, das man vorher noch nicht oder nicht mehr oder eh schon wusste. Das ist ein lobenswertes Unterfangen. Ganz gleich, ob ich neckisch eingeladen werde, den Erfinder jener Sprudelwasserflaschenetikettenbeschriftung mit den Miligramm-genauen Angaben zu erraten, ob ich staunend begreifen darf, dass ein echter Nassauer gerade kein Nassauer war, nur die unechten Nassauer waren echte Nassauer; egal, ob ich über die Innovationskraft rheingauer Winzer in Coronazeiten staune oder demütig erkennen muss, dass ich die überschäumende rheingauer Bodenhaftung im Fasching, pardon, in de Fassenacht wohl nie erreichen werde: Mithilfe derartiger Volksbildungs-Häppchen, gewürzt mit dem milden Humor der Gegend, ist mir der Rheingau tief in die Seele gewachsen.

Wenn ich diesen Text hier in meinem Heimatidiom verfasst hätte statt in Hochdeutsch, hätten die leidensbereiten Leser*innen womöglich eine Ahnung bekommen, welche Mühe des Entzifferns ich auf mich nahm bei Wörtern wie „Dubbes un Bubbes“, „Ninividde“ und „Dalbe“, „Wullewagges“ oder „Scheierbambeler“. Kantonesisch schien mir danach lernbar. Für mich ist es zugegeben inzwischen leichter, Hessisch zu hören als zu lesen. Noch immer fällt es mir allerdings schwer abzuschätzen, ob meine hiesigen Gesprächspartner bei meinen Verständnislücken mein „Ha!?“ richtig deuten können. Im Zweifelsfall kann ich ja noch ein „Wos!?“ nachschieben – wobei ich jedoch mit beiden Klärungs-Silben äußerst sparsam umgehe. Denn inzwischen ahne ich auch den tiefen Wahrheitsgehalt jener „Badesalz“-Nummer, bei der ein Hesse solange auf einen Räuber einredet, bis dieser mit blutenden Ohren tot zusammenbricht.

Aber keine Frage, aus meiner „tolerantia“ wurde „sympathia“ („natürliche Übereinstimmung, natürlicher Zusammenhang“). Wenn das keine Völkerverständigung ist! Als ich daher gebeten wurde, eine Randnotiz zu dieser rheingauer Volksbildungs-Blütenlese beizusteuern, konnte meine Antwort nur lauten: „Überredt!“

*ER: „Könntest du dir vorstellen, mit mir eine längerfristige, vielleicht sogar erotische Beziehung aufzubauen?“
SIE: „Immer wenn ich deine wunderbar poetische Sprache höre, erlischt in mir jeglicher anerzogener Widerstand gegen ein voreiliges Einwilligen in deine Beziehungsanfragen und ich bin geneigt, deinem Wunsch nachzugeben.“

Arno Hermer**


Hören Sie hier nun in die Sammlung Rheingauer Mundartkolumnen „Übberichens“ hinein. Es lesen die Autor*innen:

Ulrike Neradt: Schnudedunker im Internet


Leo Gros: Wer war’s?


Markus Molitor: Fassenacht bei uns


Helga Simon: Nassauer, Schnorrer, Schnudedunker


Leo Gros, Ulrike Neradt, Markus Molitor, Helga Simon: „Übberichens“, Eigenverlag, 10 Euro – zu beziehen über die Wiesbadener Buchhandlungen (z. B. über buchhandlung-vaternahm@t-online.de)


**Arno Hermer, gebürtiger Niederbayer mit langjährigem Wohnsitz in Wiesbaden, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Er war als Chefdramaturg, Schauspieler, Autor und Regisseur in Bruchsal und Esslingen engagiert. Seit 1989 arbeitet er freiberuflich als Autor, Schauspieler, Regisseur, Coach und Theaterpädagoge. Er ist mit zahlreichen Bühnenprogrammen unterwegs.


Gefördert aus Mitteln des HMWK „Hessen kulturell neu eröffnen“ im Rahmen unseres Projektes „Literaturdigialog Hessen“ – Zum Auftakt der Reihe, in der wir Ihnen aktuelle Publikationen hessischer Verlage vorstellen, starten wir hier direkt mit einer Ausnahme, dem Eigenverlag. Denn die Mundart aus unserer Region soll in dieser literarischen Umschau nicht fehlen.