Als Tamara zum Nildampfer wurde

20.05.2022 / Viola Bolduan


Als wir an der Rettbergsaue entlang schippern, scheint ein Sprung auf die Nil-Insel Elephantine möglich, obwohl am Schiersteiner Jachthafen gar keine kleinen Jungs um Bakschisch gebettelt hatten. Den Rhein stellen wir uns aber doch als Äquivalent zum ägyptischen Fluss vor – denn „Der Tod auf dem Nil“ spielt jetzt vor Publikum auf dem Fährschiff Tamara. Eine famose Idee im von der Stadt ausgerufenen Jahr des Wassers: Schauspielerin und Sprecherin Renate Kohn liest aus Agatha Christies Kriminalroman während einer eineinviertelstündigen Schifffahrt am sonnigen Frühsommerabend. Sie hat den dicken Schmöker gekürzt auf wasserpassende „Nil-Passagen“, und die Stadtbibliothek als Veranstalterin ihre Gäste um einen „Dresscode der 1930er Jahre“ (das Buch erschien 1937) gebeten. Er wird teilweise umgesetzt in breiten Hosenträgern und einer ganzen Menge von Strohhüten. Sie schützen auch vor zu viel Sonneneinstrahlung aufs Hirn. Und also macht sich ein voll besetztes Oberdeck auf, während des Gleitens auf des Stromes Wellen, Renate Kohns angenehmer Erzählstimme zuzuhören, die vor Manuskriptblättern am Heck sitzt, während ihr Mikro ein wenig knarzt.

Das ist nicht schlimm, denn wir kennen die Story ja, spätestens seit der legendären Verfilmung mit Peter Ustinov von 1978 und frühestens seit der Neuverfilmung von und mit Kenneth Branagh in diesem Jahr. Doch jetzt wird gelesen über das so glücklich wirkende Paar Linnet und Simon Doyle, über des reich geheirateten Bräutigams Verflossene Jacqueline de Bellefort und vor allem natürlich vom belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot, dem Renate Kohn einen passenden französischen Akzent auf die Zunge legt. Für die der Anwesenden gibt es dafür ein Getränk. Und wenn Poirot vom feinen Hotel Old Cataract in Assuan auf den Nil blickt, sehen wir, wie sich die Abendsonne im Rhein und auf Stirnen spiegelt.

Motorboote lärmen vorbei, ein einsames Kanu paddelt seine Runden, lange Passagier- und Frachtschiffe lassen die Tamara ein bisschen schaukeln, und also nehmen wir atmosphärisch teil an der alten Agatha-Christie-Touristen-Gruppe im Aussichtssalon auf dem Promenadendeck des Nildampfers. Sie unternimmt einen Ausflug nach Nubien zum Tempel Abu Simbel – wir fahren durch die Schiersteiner Brücke nach Biebrich („herrliches Panorama“, sagen die Gäste – nicht mehr vis-à-vis zum Zollspeicher) und in die Pause.

Vor der Petersaue dreht Tamara – es gibt die erste Tote auf dem Schiff. Die reiche Erbin Linnet ist erschossen und ihre Perlenkette weg. Den Segelflieger über dem Rhein lässt das kalt, und auch die Vögel im Naturschutzgebiet der Rettbergsaue lassen sich weder vom nun auf dem Nildampfer stattfindenden Verhör vom Kreisen abbringen noch als Tote Nummer 2, Linnets Zofe Louise, gefunden wird. Als darüber hinaus Mrs. Otterbourne, Schriftstellerin ihres Zeichens, ermordet wird – ist die Lesung zu Ende. Denn Renate Kohn fordert ganz im Sinne der Stadtbibliotheken zum eigenen Weiterlesen auf. Man kann das Buch ja entleihen…

Foto: Viola Bolduan