Das Gedicht kann alles

19.03.2023 / Viola Bolduan


Mörikes beständig flatterndes blaues Band („Er ist’s“ – in diesem März 2023 noch immer nicht ganz) und Robert Gernhardts Kant-Torte (…. und er sprach die schönen Worte: ,Gibt es hinterher noch Torte?‘“), keine Ballade über schillernde „Bürgschaft“ oder Ibykus‘ Kraniche, vielmehr Biermann, Wolf und Gottfried Benn, ein Kinderlied und der Abendsegen. „Der ewige Brunnen“ – ein Quell von 1.200 deutschsprachigen Gedichten vom Merseburger Zauberspruch bis Grönemeyer (neu), in den 50er Jahren von Ludwig Reiners als Sammlung begründet, ist von Dirk von Petersdorff, Germanist und Autor, bearbeitet und herausgegeben worden. Am 16. März 2023 war Erscheinungstag des Schmökers durch alle Verse  (C.H.Beck-Verlag) und gleichzeitig Petersdorffs 57. Geburtstag. Er feierte ihn im Großen Haus des Staatstheaters gemeinsam mit Publizistin Elke Heidenreich   und Marc-Aurel Floros, Pianist und Heidenreichs Lebensgefährten am Flügel. „Happy Birthday“ nach dem Schostakowitsch-Walzer dem Herausgeber zu Ehren. Tusch.

Am Tisch vor heruntergelassenem Gobelin-Vorhang geht es zwischen den beiden Erzählenden, Erklärenden und Lesenden munter zu. Elke Heidenreich, quick und helle auch mit 80, fragt – Dirk von Petersdorff sagt: Die Spannbreite der ursprünglichen Sammlung, die Kapiteleinteilung, das Kreuz und Quer durch die Zeiten sind erhalten geblieben; manch altes Gedicht wurde entfernt, aktuelle Texte sind hinzugekommen. Schillers und Fontanes Balladen, Hölderlins Oden, wenn auch (wie schön!) nicht vorgetragen, sind erhalten geblieben, Lyrik von Frauen, wie Ingeborg Bachmann oder Sarah Kirsch, hinzugefügt. Und womit beginnt die Lesung?

Natürlich mit dem Säulenheiligen der Dichtkunst, Goethe: „Willkomm und Abschied“ (Heidenreich schnalzt das Tempo des Hufgetrappels dazu), flankiert und aus Frauensicht kommentiert von Mascha Kalékos „Das letzte Mal“. Nicht nur die Vortragenden sind in einem ständigen Dialog, auch die gelesenen Gedichte sind’s. Und oft muss Elke Heidenreich gar nicht lesen: den „Abendsegen“ von Adelheid Wette aus „Hänsel und Gretel“ kann sie so gut auswendig wie Eichendorffs „Mondnacht“ und summt mit, wenn Marc-Aurel Floros „Wenn ich ein Vöglein wär‘“ am Flügel anstimmt. Und dann erzählt sie von ihrer Kindheit: Immer dann, wenn es hart zu Hause war, griff sie zum alten „Ewigen Brunnen“, fühlte sich von Gedichten verstanden und getröstet. „Gedichte erklärten mir die Welt.“ Das gelte auch für heutige junge Leute. Einfach mal blättern, entdecken, sich von Inhalt, Form und Klang ansprechen lassen. Das frühere „Hausbuch“ sei nun ein „Haus- und Mitnehm-Buch“, Türöffner für eine Neugier, was Gedichte können und seit den Merseburger Zaubersprüchen schon immer konnten. Moden gibt es auch, je nach Zeitgenossenschaft. Vorlieben ändern sich – doch das Spektrum bleibt, aus dem man aussuchen kann, denn: „Das Gedicht kann alles.“ Auch lachen, wie Vorleser von Petersdorff und das Publikum gleichermaßen mitten im Vers „Die wahre Erkenntnis liegt unbestritten etwa zwischen dem zweiten und dem dritten (Mann), wenn Tucholsky „Die geschiedene Frau“ sprechen lässt. Brutal (mit Rilke-Beispiel), lustig, hermetisch (wie Benn – Elke Heidenreich: „Ich versteh auch nicht alles“), politisch (Wolf Biermann: „Ermutigung“), abstrakt und konkret, kunstvoll und schlicht, können Gedichte sein und machen auf sich Lust, wenn sie, wie von Elke Heidenreich und Dirk von Petersdorff leger, leicht und luftig vorgestellt und mit Marc-Aurel Floros von zart bis furios auf dem Flügel begleitet werden.

Dû bist mîn, ich bin dîn/des solt dû gewis sîn“ dieser, einer der ersten Verse mittelhochdeutscher Lyrik, macht in seiner Einfachheit den Anfang des Buches.

 „Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“, neu ausgewählt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff, C.H. Beck, 1167 Seiten.