Das Interview mit Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende führte die Vorsitzende des Fördervereins, Rita Thies. Als kleinen Dank für die Zeit, die er der Interviewerin zur Verfügung stellte, brachte sie ihm von Fernando Aramburu „Patria“ mit …
Thies: Haben Sie schon von dem Buch gehört?
Mende: Ich kenne es noch nicht, freue mich aber darauf, es zu lesen.
Haben Sie denn überhaupt Zeit zum Lesen?
Ich lese den ganzen Tag Akten, E-Mails, Post, aber leider nichts Schöngeistiges. Ehrlich gesagt ist es für mich nichts Neues, dass ich außerhalb der Ferien wenig Zeit habe, entspannt Bücher zu lesen. In den Ferien gelingt es mir mehr zu lesen, einen schönen, schattigen Platz zu finden und Bücher zu verschlingen.
Was lesen Sie denn eher: Sachbücher oder Belletristik? Und: Was haben Sie zuletzt gelesen
Beides. Als Sachbuch habe ich zuletzt natürlich „Die Unverfrorenen“ von Ewald Hetrodt gelesen, in der Belletristik von Daniel Kehlmann „Tyll“. In das darauf beruhende Theaterstück habe ich es leider noch nicht geschafft.
Wenn Sie im Alltag so wenig Zeit zum Lesen haben, aber doch ein begeisterter Leser sind, gibt es bei Ihnen so etwas wie eine „Leseliste“, d.h., Bücher, die darauf warten, von Ihnen gelesen zu werden?
Keine Liste, aber es gibt zuhause ein Regalbrett, auf dem neue historische, politische als auch belletristische Bücher auf mich warten…
Kann Lesen die Welt besser machen?
Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass Nicht-Lesen die Welt schlechter macht. Lesen bildet, regt die Fantasie an. Ich war gerade in der Grundschule Schelmengraben, wo wir die Schulbibliothek eingeweiht haben, an deren Finanzierung ich schon als Ortsvorsteher mitgewirkt habe. Das ist mir unglaublich wichtig: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Schulen ohne eine Bibliothek gibt. Als ich das erste Mal da war und ich gefragt habe, wo hier die Bibliothek sei, war ich entrüstet, dass es keine gab. Denn Bücher und Schule gehören einfach zusammen. – Zumal in einer Schule, wie im Schelmengraben mit besonderen Herausforderungen, ist es umso wichtiger, dass Kinder den Zugang zu Büchern haben.
Wäre das ein Programm, auf Dauer wieder alle Grundschulen mit kleinen Bibliotheken auszustatten?
Da müsste ich mir erst einmal einen Überblick verschaffen. Aber eine Grundschule ohne ein kleines Bibliotheksangebot ist eigentlich ein unhaltbarer Zustand. Zumindest einen kleinen Bestand an Kinderbüchern, Sachbüchern oder kindgerechter Literatur müsste eigentlich jede Grundschule haben.
Gibt es Bücher, die Sie als junger Mensch besonders beeindruckt haben, vielleicht einen Aha-Effekt ausgelöst haben?
Daran habe ich gerade neulich noch einmal gedacht. Ich war eingeladen zum Lesemarathon in Biebrich und sollte ein Kinderbuch mitbringen. – Ich habe von Judith Kerr „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ mitgebracht. Das ist ein Buch, das meine Mutter mir in die Hand gedrückt hat, als ich ungefähr zwölf war. Es ist tatsächlich der erste kindgerechte Zugang zum Thema „Judenverfolgung“ und „Nationalsozialismus“. Das Buch hat mich nachhaltig beeindruckt, weil es bei mir die erste Konfrontation mit dem Thema war, und ein Lebensthema ist, mit dem ich mich bis heute beschäftige.
Das zweite Buch, das mich sehr beschäftigt hat, war von Hoimar von Ditfurth „Im Anfang war der Wasserstoff“. Das war mein Zugang zur Welt der Naturwissenschaften. Er hat ein wunderbares Sachbuch geschrieben, ein populärwissenschaftliches Sachbuch, das mich auch schon für Themen wie die Ökologie, für das ganze naturwissenschaftliche Denken sensibilisiert hat.
Wie würden Sie heute Kinder und Jugendliche davon überzeugen zu lesen?
Das Wichtigste ist, glaube ich, Kindern vorzulesen, wenn sie klein sind. Ich bin ein großer Freund des Vorlesens. Wichtig ist dabei, mit Leidenschaft vorzulesen, die Geschichten lebendig werden zu lassen, weil Kinder dann entdecken können, welch unglaubliche Fantasie Bücher freisetzen können. Das ist der Zugang, den man zum Lesen braucht. Klar, irgendwann müssen Kinder auch lernen, Sachtexte so zu lesen, dass sie diese verstehen, aber der Zugang ist erst einmal ein emotionaler, Spaß daran zu haben, sich in fremden Welten einzufinden.
Im Moment erfahren wir, dass das Informationsmonopol, das lange Zeit bei den Bibliotheken lag, im Nutzungsverhalten kippt. Wikipedia geht schneller. Haben Bibliotheken in der Wissensvermittlung noch eine Zukunft?
Ich glaube, Bibliotheken haben noch eine Zukunft, aber weniger für das lexikalische Wissen. Ich habe früher Lexika gehortet, ich hatte ein uraltes von meinem Großvater, und wenn ich wissen wollte, wie die Leute um 1900 gedacht haben, habe ich da nachgeschaut. Aber ehrlich gesagt, ich würde vieles heute auch eher googeln. Bibliotheken braucht man heute vor allem auch fürs akademische Studium und als Ort des Lernens, als Arbeitsort. Meine Tochter z.B. trifft sich zur Abi-Vorbereitung oft mit Freundinnen.
Bedeutet das auch, dass man neue Wege gehen muss in der Wissens- und auch in der Literaturvermittlung? Zum Beispiel gibt es in Madrid U-Bahn-Bibliotheken, die New York Public Library veröffentlicht „Insta Novels“.
Das kann ich nicht abschließend beurteilen, ich glaube, man muss neue Wege einfach ausprobieren. Welche davon funktionieren, da habe ich noch keine Fantasie. Lesen ist am Ende immer noch ein bisschen anstrengend. Es ist nicht so, dass man diese Anstrengung komplett vermeiden kann, es ist vielmehr so, dass man aus der Anstrengung einen Gewinn erzielt.
Viel wichtiger ist mir in diesem Zusammenhang jedoch die Medienkompetenz im Zusammenhang mit Online-Medien. Da gibt es einen erheblichen Nachholbedarf. Und das ist kein Problem von jungen Leuten. Es ist ein Problem aller Generationen. Der größte Teil des absoluten Unsinns, der im Netz verzapft wird, der kommt nicht von den jungen Leuten. Da gibt es viele Leute mittleren Alters, die schräge „Fakten“ verbreiten, um es freundlich zu formulieren. – Medienkompetenz, also die Frage, was habe ich mir eigentlich zusammengegoogelt und welche Qualität hat das? – dem gegenüber ist das Buch natürlich immer noch deutlich im Vorteil. Wenn ich ein Buch aus einer wissenschaftlichen Bibliothek als Beleg habe, kann ich eigentlich immer noch davon ausgehen, dass es meistens besser ist als manche dubiose Studie, die im Internet veröffentlicht wird.
Themenwechsel – als Vorsitzende des Fördervereins des Literaturhauses interessiert mich natürlich, was Sie mit dem Literaturhaus Villa Clementine verbinden …
Das Literaturhaus kenne ich persönlich nicht so sehr gut. Meine Frau ist Buchhändlerin, viel häufiger dort und erzählt von den Lesungen, die sie erlebt hat. Ich kenne natürlich das wunderbare Haus, die Liegenschaft, aber zugegebenermaßen eher den Presseclub als oben den Teil… Obwohl, das gehört natürlich auch zusammen.
Aber die zwei Büchertauschstellen haben Sie schon einmal wahrgenommen? Haben Sie schon einmal diese oder andere genutzt?
Ich finde diese öffentlichen Bücherregale schön. Wir haben im letzten Jahr daheim das Arbeits- und das Wohnzimmer verändert und haben dann viel aussortiert. Ich habe wirklich kistenweise gute Bücher in den unterschiedlichen öffentlichen Bücherschränken untergebracht.
Das Literaturhaus als Ort der Begegnung, als Ort, an dem – nicht nur, aber hauptsächlich – über Literatur geredet wird. Ich habe festgestellt, dass es ein großes Bedürfnis von Menschen gibt, nicht nur zu lesen, bei Lesungen zuzuhören, sondern vor allem auch über Gelesenes zu sprechen … Mit wem reden Sie über Gelesenes?
Viel zu wenig, ich komme ja kaum zum Lesen. Wenn, dann mit meiner Ehefrau, wir tauschen uns ein bisschen aus.
Wären Sie auch einmal bereit, von Ihnen Gelesenes und für empfehlenswert Befundenes in einem moderierten Gespräch im Literaturhaus vorzustellen? Unter dem Motto „Unbedingt lesen …“
Das kann ich mir gut vorstellen. Das müsste aber dann wirklich einmal nach den Sommerferien oder anderen Ferien geschehen, damit ich wirklich eine frische Erinnerung an das Gelesene habe.
Das muss ja auch nicht nur eins sein. Das können auch z.B. fünf sein, z.B. auch das oben genannte Buch von Judith Kerr, etc. – Das Gespräch über das Gelesene hat immer auch stark mit der Person zu tun …
Sicher. –… Ja, das können wir gerne verabreden.
Herr Mende, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.