Ich gestehe: Der Rheingau ist bislang für mich eine terra incognita

21.06.2019 / Viola Bolduan


Interview mit Dörte Hansen, Rheingau-Literatur-Preisträgerin 2019 für Ihren Roman „Mittagsstunde“, geführt am 21. Juni 2019 von Viola Bolduan

Frau Hansen, wie war das für Sie, als Sie erfahren haben, dass Sie für Ihren neuen Roman „Mittagsstunde“ den Rheingau-Literatur-Preis erhalten?

Da man sich für den Rheingau-Literatur-Preis nicht bewerben kann, kam die Nachricht für mich völlig überraschend. Umso war größer die Freude.

Kurz zuvor am selben Tag war Ihnen für das Buch bereits der Grimmelshausen-Preis zuerkannt worden. Hätten Sie so viel Ehrung für die „Mittagsstunde“ erwartet?

Zwei Literaturpreise innerhalb einer halben Stunde – das erwartet man wirklich nicht! Das war schon ein denkwürdiger Vormittag.

Die Jury-Begründung für den Rheingau-Literatur-Preis lobt Ihr „Kunststück, das Verschwinden einer Lebensform sinnlich erfahrbar werden zu lassen“. Welche Sinne aktivieren Sie, wenn Sie schreiben?

Vor allem das Hören. Ich arbeite sehr lange an dem richtigen Ton, dem Rhythmus und der Melodie eines Textes.

„Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch“ heißt es im Roman. Worum geht es im norddeutschen Dorf Brinkebüll denn dann?

Der Satz bezieht sich ja auf meinen Protagonisten Ingwer Feddersen, der in diesem ewigen nordfriesischen Wind steht, hier nicht bleiben will und doch nicht richtig wegkann. Ein Suchender, der irgendwann begreift, dass er dem Dorf nichts schuldig ist – das Dorf ihm aber auch nicht.

Ihr Buch schildert den Niedergang einer alten Dorfgemeinschaft in ihrer Verbundenheit mit der Natur. Inwiefern geht mit örtlicher Flurbereinigung denn auch die Natur zugrunde?

Es ist gar nicht in erster Linie die Natur, der die Brinkebüller nachtrauern. Sie trauern um ihr Dorf, das stirbt: Die kleinen Bauern geben auf, die Schule wird geschlossen, die Meierei, der Kaufmannsladen und die Bäckerei verschwinden – das alles sind die Folgen des Strukturwandels, der mit der Flurbereinigung begonnen hat. Dass irgendwann die Störche und die Schwalben wegbleiben, die Hasen verschwinden und die alten Ulmen sterben, wird auch bedauert, aber die anderen Verluste wiegen für die Dorfbewohner schwerer.

Wie stark fungiert Hauptfigur Ingwer als Sohn einer verwirrten Einwohnerin und eines unbekannten Vermessungsingenieurs, außerdem von Beruf Archäologe als ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft, Land und Stadt?

Ich brauchte für meinen Roman einen Protagonisten, der mit beiden Welten vertraut ist: mit der dörflichen, bäuerlichen, und mit der urbanen, akademischen. Außerdem wollte ich eine Figur, die sich mit der Geschichte Nordfrieslands auskennt. Und meine Erzählzeit sollte die fünf Jahrzehnte zwischen Flurbereinigung und Gegenwart umfassen sollte. So kam es dann zu diesem knapp fünfzigjährigen Archäologen.

 

 

Die Großeltern Feddersen haben Ingwer großgezogen – er dankt es ihnen, indem er sie in ihrer Demenz und ihrem Sterben begleitet. Wie wichtig war/ist Familienbindung im nordfriesischen Dorfleben?

Ich glaube gar nicht, dass die Familienbindung auf dem Dorf grundsätzlich anders ist als in der Stadt. Ob in der norddeutschen Provinz oder in einer süddeutschen Metropole: Es gibt Familien, in denen man sich umeinander kümmert, und es gibt andere, in denen man das nicht tut. Ingwer Feddersen will etwas gutmachen. Er fühlt sich seit Jahrzehnten schuldig, weil er die beiden Alten und das Dorf verlassen hat.

Ingwers Dozentenleben in seiner Kieler WG liest sich dagegen wie eine Parodie auf moderne Lebenshaltungen – verführt die Stadt generell zur Degeneration?

Ganz sicher nicht! Die Kieler Wohngemeinschaft besteht seit mehr als 25 Jahren, und ihre drei Bewohner sind im Laufe der Zeit ein bisschen schrullig geworden. Als degeneriert würde ich sie aber nicht bezeichnen.

Ihre Schilderung von Debilität und Demenz in der Gestaltung der Frauenfiguren Marret und Ella ist außerordentlich berührend – wie fühlen Sie sich in solche Gemütszustände ein?

Ich habe lange als Reporterin gearbeitet, da lernt man das Beobachten und das Beschreiben. Der Rest ist Empathie – und eine große Faszination für die Spielarten der menschlichen Psyche.

Zum Geldpreis des Rheingau-Literatur-Preises von 11.000 Euro gehören auch 111 Flaschen Rheingauer Riesling – wie gern trinken Sie Wein?

Für nordfriesische Verhältnisse bin ich eine geradezu passionierte Weintrinkerin. Mich macht deshalb auch dieser Teil des Preises sehr glücklich!

Wie gut kennen Sie den Rheingau?

Ich gestehe: Bislang ist er für mich eine terra incognita. Das muss natürlich anders werden!

 

Foto: ©Sven Jaax/Penguin/Random House