Ingo Schulze: „Descartes‘ ,Cogito ergo sum‘ ist ein Irrweg“

20.08.2020 / Viola Bolduan


Autor Ingo Schulze spricht sich im Interview über seinen neuen Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ für den Dialog und das Lebendige der Literatur aus. Wie eng und schillernd er die drei Teile seines Romans aufeinander bezogen hat, erschließt sich erst ganz am Ende des Buchs. Da heißt es also: dran bleiben. Am 26. August hat Ingo Schulze das Buch im Kulturforum Wiesbaden vorgestellt und sich dabei als sympatisch offener Gesprächspartner erwiesen.

Herr Schulze, hätte Ihre Hauptperson, Antiquar Norbert Paulini, sein im Roman dargestelltes Leben so auch in West-Deutschland leben können?

Ja, natürlich, aber es hätte anders ausgesehen. Wer 1953 im Osten geboren wurde und dort blieb, hat natürlich eine andere Sozialisation als jemand desselben Jahrgangs im Westen. Aber ich vermute, dass er auch im Westen Antiquar geworden wäre. Die Schwierigkeit, über ihn zu sprechen, liegt darin, dass wir letztlich ja gar nicht wissen, wie dieser Paulini wirklich war, er ist eine Projektion, das wird im zweiten Teil klar. Er erfährt eine Überhöhung.

Welchen Unterschied in der Begeisterung für Literatur stellen Sie im Rückblick für Ost- und West-Deutschland fest?

Ich kann das schwer vergleichen, weil ich bis zum Mauerfall nie im Westen gewesen bin. Die Verfügbarkeit von Literatur war im Westen eine andere, was nicht heißt, dass man da alles auf dem Silbertablett bekam. Im Westen war es wohl eher eine Frage des Geldes, im Osten eher eine Frage, da überhaupt heran zu kommen. Und wenn etwas Mangelware ist, dann bekommt es noch einen anderen Stellenwert. Im Osten waren die ideologischen Markierungen vordergründiger. Da führte die Literatur unmittelbar in die täglichen Auseinandersetzungen, ihre gesellschaftliche Bedeutung war enorm. War ein Buch im Osten erschienen, konnte man damit argumentieren. Deshalb vergrößerte jedes gute Buch den eigenen Spielraum.

Literaturversunkenheit führt im Falle Paulinis zu gefährlicher Weltfremdheit. Wovor bewahrt die größte Literaturkenntnis nicht? Oder mehr noch: Was behindert sie?

Als Leser weiß ich ja, welch enorme Bedeutung die Literatur für mein Leben hat. Aber wie in der Philosophie oder der Theologie, kommt es halt darauf an, welche Bücher und Autoren man liest und wie man sie interpretiert. Als ich jetzt wieder den „Hyperion“ las, war es mir unbegreiflich, wie Hölderlin für den Nationalsozialismus eingespannt werden konnte. Es ist immer ein Kampf der Erzählungen und Interpretationen. Aber ich weiß auch aus meinem Alltag, dass große Literaturgeister nicht unbedingt große Charaktere sein müssen. Wenn etwas gegen das Abrutschen in menschenfeindliche Gesinnungen hilft, dann nur die alltägliche Praxis, in der man ein anderes Verhalten „einübt“.

Nicht nur der Antiquar, auch der Autor verschreibt sich notabene der Verführungskraft der Literatur … wie schützen Sie sich selbst vor den Anfechtungen, die Ihre Figur erfährt?

Ich bin gerade dabei, die Laudatio auf Dzevad Karahasan zu schreiben, der den Goethe-Preis erhalten wird. Er macht immer wieder klar, wie wichtig das Gegenüber als Gesprächspartner ist und nicht als Bedrohung, als Feind. Und das schreibt er auch, während er im besetzten Sarajevo im Keller eines Hauses sitzt, während oben die Granaten einschlagen. Ich halte mit Dzevad Karahasan das berühmte „Cogito ergo sum“ von Descartes für einen Irrweg, weil bei aller Grandiosität von Descartes das Dialogische nicht vorkommt. Und wie soll ich meinen eigenen blinden Fleck erkennen – und den zu erkennen, ist ja die Aufgabe jeder Selbstaufklärung –, wenn ich kein Gespräch führe?

Worin besteht der Unterschied zwischen Liebe zur Literatur und „kontextlosem Ästhetizismus“, dessen Paulini sich schuldig macht?

Liebe zur Literatur ist etwas Lebendiges, wie jede Liebe. Es geht da nicht um Erfüllung von Normen. Ich werde immer nervös, wenn ein Buch gelobt wird mit einem Satz wie, „das sei gut geschrieben“. Das „gut schreiben“ ist nicht das Problem, das kann man mit etwas Begabung und Fleiß und guten Vorbildern auch lernen. Die Frage ist, wie verhält sich der Stil zum Stoff, wie angemessen ist er und was bedeutet das für mich als Leser in meiner Welt. Wir kennen es doch aus der Kunst oder der Musik, da kann gerade das Unpassende, scheinbar nur Gekritzelte oder Misstönende das Richtige sein.

Es ist ein Roman über die Literatur selbst – mit ungeheuer vielen Titel-Aufzählungen und Zitaten. Wie haben Sie sich diese Listen erarbeitet, und inwieweit muss Publikum diese geballten Anspielungen erkennen?

Es geht allein darum, die Figur des Antiquars zu charakterisieren. Da hat mir auch ein Freund viele Hinweise gegeben. Paulini musste als Antiquar denken, und ein Antiquar wie er, so stelle ich mir das zumindest vor, kennt halt viel Literatur und weiß durch seine Zitate auch zu beeindrucken.

Sie feiern im Buch auch stark die Elb-Landschaft bei Dresden – welche Bedeutung hat sie für Sie?

Das ist meine Kindheits- und Jugendlandschaft. Und ich bin immer wieder neu fasziniert, wie Dresden als Stadt mit der Elbe umgeht, das ist wunderschön, man lebt auf den Fluss hin, es gibt die Elbwiesen, die Umgebung von Meißen flussabwärts über Pillnitz und Pirna flussaufwärts bis hinein ins Elbsandsteingebirge sind atemberaubend schön und ein regelrechter Kulturspeicher. Man könnte sein Leben damit verbringen, das alles zu erkunden.

Sie spielen mit sich selbst als Autor namens Schultze, der in Teil 1 das Leben Paulinis referiert, in Teil 2 die eigene Begegnung mit Paulini schildert, und wir erfahren über des Autors Lektorin vom Manuskript des 1. Teils im letzten Teil. Wie viel Spaß hat es gemacht, qua Struktur am Ende dazu aufzufordern, den gesamten Roman noch einmal von vorn zu lesen?

Das freut mich, wenn Sie das so sehen. Ich habe aber nicht vorher gewusst, dass das, was ich da schreibe, einmal so aussehen wird.  Teil zwei und drei sind jeweils erst während des Schreibens notwendig geworden. Als es nach einigen Irrwegen dann so war, wie es jetzt im Buch aussieht, war ich sehr erleichtert. Diese Struktur ermöglicht es auch mir, mir als Leser Konstellationen vorzustellen, an die ich während des Schreibens überhaupt nicht gedacht habe.

In welcher der Erzählstimmen sind Sie sich selbst am nächsten?

Wenn überhaupt, dann nur in der Gesamtheit. Es hat ja jede Figur im Buch was für sich, aber jede wird auch fragwürdig.

Von „rechtschaffenen Menschen“ wird auf den letzten Buchseiten gesprochen – den Sprung zum Titelwort „Mörder“ überlassen Sie nun ganz Ihrem Lesepublikum?

Ja. Die Figur des Juso Podzan Livnjak ist sehr wichtig, der bei mir das Antiquariat von Paulini weiterführt. Ich habe mir diese Figur aus Karahasans Roman „Der Trost des Nachhimmels“ ausgeborgt. Da kommt plötzlich jemand, der noch ganz andere Erfahrungen besitzt als die anderen Figuren. Vor zwei Wochen fragte eine Frau nach einer Lesung: ,Sind wir nicht alle auch rechtschaffene Mörder?‘ Sie meinte das im Sinne unseres Alltags, welche Auswirkungen hat unser way of life für andere.

„Literatur und Leben ist zweierlei“, steht im Roman. Ist es da kein Widerspruch, dass Ihre Literatur doch auch zum Leben derer, die Sie lesen, beitragen will?

Das sage ja nicht ich, das sagt ein ziemlich aufgebrachter, von der Autorenfigur Schultze porträtierter Paulini, der zu in diesem Moment ziemlich weit rechts gelandet ist. Literarische Figuren treten doch in unser Leben ein, so wie wir in das ihre eintreten. Nicht, dass ich sie mit wirklichen Menschen verwechseln würde, aber in ihrer Bedeutung für mich kommen sie einander oft recht nahe.

„Die Dichter müssen lügen“, lesen wir auch in Ihrem Buch. Was dürfen/sollen wir Ihnen aber dennoch glauben?

Es geht um die Stimmigkeit der Geschichte. Für einen Roman spielt es keine Rolle, ob sich das alles tatsächlich so zugetragen hat oder, wie in meinem Fall, erstunken und erlogen ist.

Wenn Sie in Wiesbaden aus „Die rechtschaffenen Mörder“ lesen, welche Erinnerungen haben Sie an die Stadt?

Das Buchhändlerehepaar Vaternahm hatte mich schon mit meinem ersten Buch zu einer Lesung eingeladen und mir dann die Treue gehalten. Ich glaube, ich habe wirklich jedes meiner Bücher in Wiesbaden ziemlich bald nach dessen Erscheinen vorstellen dürfen. Das verbindet einen natürlich mit der Stadt. Und seit Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion …“ und seines jüngsten Romans fühle ich mich in Wiesbaden regelrecht heimisch.

Ingo Schulze: „Die rechtschaffenen Mörder“. S. Fischer. 318 Seiten. 21 €.