Klosterfrau Hildegard von Bingen, 12. Jahrhundert, war Gelehrte, Mystikerin, Briefpartnerin und Buchautorin – und wird zur Referenz für eine Digitalnative des 21. Jahrhunderts, wie auch Emily Dickinson, mit der die Ich-Erzählerin ihren Rückzug aus der Gesellschaft teilt. Für die amerikanische Lyrikerin aus dem 19. Jahrhundert war es noch eine aus Menschen bestehende, für Jenifer Beckers Figur, drei Jahrhunderte später, die der Social Media. Deren Sehnsucht gilt einer Ruhe in Abgeschiedenheit, jedoch ohne kreatives Resultat (wie es die Frauen aus der Vergangenheit vorlebten). Das ist das Dilemma in Jenifer Beckers Debütroman „Zeit der Langeweile“. Denn Ich-Figur Mila Meyring will ihre digitalen Spuren im Internet löschen, ihre Sucht nach elektronischen Infos und Chats in den sozialen Netzwerken bekämpfen, ihre Abhängigkeit von allen möglichen Zugängen und Kontakten via Computer beenden und erschöpft ihre Energie dabei. Das Ergebnis: „Zeiten der Langweile“.
Autorin Jenifer Becker haben Literaturinteressierte auf dem Festival des Fördervereins Literaturhaus in diesem Sommer kennengelernt als Referentin zum Thema „KI und Literatur“. Die promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturinstitut der Uni Hildesheim hatte mit ChatGPT bearbeitete Texte mitgebracht – Fazit: In Literatur sind menschliche Fantasie und Schreiberfahrung künstlicher Intelligenz (noch) stark überlegen. Und in ihrem ersten, gerade erschienenen Roman schreibt sie nun, wie sich eine Frau Mitte 30, aus dem Krakengriff des digitalen Urwalds, in den sie sich tief hineinbegeben hat, befreien will.
Vieles im Buch wird auf eigenen Erfahrungen beruhen, heißt auch: die Sprache ist durchzogen von Begriffen der Millennial-Generation von TikTok, Instagram, Netflix, Spotify, etc. bis Meme, nutzt Abkürzungen, wie FOMO, Detox, TERF und HDGDL – nicht nur Hildegard von Bingen hätte ein Wörterbuch gebraucht! Hier ist das Vokabular der digital Sozialisierten eingesetzt für die Google-Recherche nach den eigenen Spuren im Netz, die es auszulöschen gilt. Die Arbeit ist lang, aufregend und deprimierend bis zur Depression. Kleinteilig schildet die Ich-Erzählerin ihre Tagesabläufe im Corona-Jahr 2021 in Berlin auf der Suche nach der „Real-Life-Reset“-Taste zwischen der Angst, von anderen gecancelt zu werden und der Sehnsucht nach einem wieder analogen Leben. Wie eintönig das wird, wird ihr freilich auch immer bewusster. Immerhin – die hektischen Versuche, ihren eigenen digitalen Fingerabdruck aufzuspüren, um ihn zu vernichten, hält die Ich-Erzählerin weiterhin am Rechner fest. Sie ist mit der Aufgabe ihrer Social-Media-Kontakte eben nicht mehr online erreichbar und fühlt sich entsprechend abgehängt. Die Kontakte zum misanthropischen Bruder und zur Offline-Oma auf dem Land helfen wenig. Der Abtauch-Versuch aus dem digitalen Netz kostet Lebenskraft – allein mit sich weiß Mila nicht, was zu tun.
Jenifer Becker beschreibt eindrücklich die Abhängigkeit einer Digital-Generation – und realistisch deren Unüberwindbarkeit. „Ich wusste, dass es kaum möglich war, in einer strahlenfreien Zone zu leben …Genauso unmöglich war es aber auch, in dieser Welt zu leben …“, in der Hildegards von Bingen Engel-Vision sich in eine Drohne verwandelt. Das elektronische Auge ist allgegenwärtig.
Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“. Hanser Berlin. 240 Seiten. 23 €.