Sie ist die Heidenreich unter Wiesbadens Buchhändler/innen: Jutta Leimbertvon der Buchhandlung Vaternahm. In den vergangenen Jahren waren ihreLesetipps zur Advents- und Weihnachtszeit für alle literaturbegeisterten Wiesbadener/innen, vorgetragen im Roten Salon des Literaturhauses Wiesbaden in der Villa Clementine, ein fester Termin. Und in diesem Jahr? Wir lassen uns von ihren Texten inspirieren und denken uns ihre begeisternde Stimme einfach dazu.
Acht Lesetipps: Von armen und schönen Frauen, glatten Tieren, Überraschungen für Greise, Promi-Meetings in Darkrooms und abgründigen Charakteren. So, genauso, besiegen wir das Virus. Foto: Rita Thies/Text: Armin Conrad
Jutta Leimbert empfiehlt:
Monika Helfer: Die Bagage
Roman, Hanser Verlag, München 2020, 190 Seiten, 19 €
Es beginnt fast wie ein Märchen: Am Ende eines finsteren Tals im tiefen Bregenzerwald lebte einmal eine wunderschöne Frau. Diese Frau lebte mit ihrem feschen Mann in großer Armut auf kargem Grund. Die beiden hatten vier Kinder und waren trotz einiger Not eigentlich ganz zufrieden und glücklich. Dann kam der Große Krieg und der Mann musste fort. Maria blieb mit den Kindern zurück, abhängig vom Schutz des Bürgermeisters, der selbst an der schönen Maria interessiert ist. Hat er doch etwas gut, weil er die Familie mit Lebensmitteln versorgt.
Dann wird Maria wieder schwanger. Kann Josef der Vater sein, so selten wie er auf Heimaturlaub war? Oder ist das Kind des Bürgermeisters? Oder vom schönen Georg aus Hannover, den Maria auf dem Markt kennengelernt hat und der eines Tages an die Tür der Bagage klopfte?
Das Kind, das Margarete heißt und Grete genannt wird, ist die Mutter der Erzählerin. Josef wird zeitlebens kein einziges Wort mit ihr sprechen.
Ein schmaler Roman, der vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht – einer der schönsten des Jahres: In „Die Bagage“ erzählt Monika Helfer mit großer Wucht die Geschichte ihrer Familie, scheinbar einfach, aber voller Hintersinn.
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Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz, Hanser Verlag, München 2020, 256 Seiten, 22 €
Ein ganzes Buch über eine Fischart? Tatsächlich gelingt dem schwedischen Journalisten Patrik Svensson dieses Kunststück sehr überzeugend. Schnell wird klar, dass am Aal mehr dran ist, als die meisten denken.
Schon seit jeher haben die wurmähnlichen Wasserbewohner den Menschen fasziniert. Bereits in der Antike studierte Aristoteles sie und wunderte sich darüber, keine Geschlechtsorgane finden zu können. Sind Aale überhaupt Fische? Zahllose weitere Forscher widmeten sich in den folgenden Jahrhunderten der „Aalfrage“, der Suche nach den geschlechtsreifen Tieren und vor allem ihrem Laich-Ort. Svensson zeichnet diese Entdeckungsreise anhand von diversen Forscherpersönlichkeiten nach – darunter überraschenderweise Sigmund Freud, der als junger Mann an der „Aalfrage“ scheiterte.
Inzwischen wissen wir recht viel über Aale, kennen ihre Metamorphosen von der kleinen Weidenblattlarve über den Glasaal zum Gelb- und schließlich zum geschlechtsreifen Blankaal – und auch die vermutlichen Laichgründe in der Sargassosee, einem Atlantikgebiet vor der Küste Floridas, das nur von Meeresströmungen begrenzt wird. Freilich hat bis heute noch kein Forscher einen Aal beim Laichen beobachtet.
Das „Evangelium der Aale“ ist ein Stück Wissenschaftshistorie, in dem zwei Geschichten kunstvoll miteinander verwoben sind: jene der Aalforschung, sowie Svenssons eigene Familiengeschichte. Bindeglied ist Svenssons Vater, mit dem der Autor die Leidenschaft für Aale und das Angeln teilte. Daneben ist das Buch voll von literarischen Bezügen, Mythen und kulturgeschichtlichen Betrachtungen rund um den Aal. Von der ersten Seite an zieht Svenssons fundiert recherchiertes Werk seine Leser/innen in den Bann des Geheimnisvollen. Eine wunderbare Symbiose aus „family writing“ und „nature writing“ – der scharfsinnige Schwede hat das Beste aus den großen Trends der Literaturszene herausgeholt und kombiniert dabei gekonnt wissenschaftliche Genauigkeit und literarischen Anspruch.
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Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena
aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Hanser Verlag, München 2020, 236 Seiten, 20 €
Einst lebten sie zu fünft in der schönen Wohnung in Turin – er und seine Familie. Nach dem Tod seiner Frau vor einigen Monaten ist es still geworden in der Wohnung am Fluss. Der Vater ist einsam und lebt von den Erinnerungen an früher – einst reiste er als Ingenieur um die Welt und baute riesige Brücken. Die Kinder sind aus dem Haus und leben ihr eigenes Leben: Sein Sohn lebt in Finnland, mit der jüngeren Tochter hat er keinen Kontakt (sie ist die Erzählerin in diesem Buch), nur die älteste sieht er ab und zu mit ihrer Familie.
An dem Sonntag der Erzählung kocht er zum ersten Mal ein aufwendiges Essen aus dem Rezeptbuch seiner Frau, er erwartet den Besuch seiner älteren Tochter mit Familie. Kurzfristig muss die Tochter absagen. Traurig geht er in den nahen Park und lernt dort Elena mit ihrem Sohn kennen. Spontan lädt er sie zum Essen in seine Wohnung ein. Diese zufällige Begegnung wird alle drei für immer verändern.
„Elena prostete ihm zu: ,Danke‘, sagte sie, ,Heute Morgen beim Aufwachen hatte ich den Kopf voller Schatten. Alle haben Sie nicht verjagt, aber ein paar schon. Danke dafür, wirklich.'“
Große Lesefreude, diese Geschichte voller Zuversicht und Wärme!
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Marco Balzano: Ich bleibe hier
Roman, aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 288 Seiten, 22 €
Im Vinschgau, nicht weit von der der österreichisch-italienischen Grenze, ist eine eigentümliche Attraktion zu besichtigen, ein Turm, der bis zur Hälfte im Wasser des Reschensees steht. Im Bild dieses Kirchturms von Altgraun entdeckt Marco Balzano nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern auch die Geschichte Südtirols und zuletzt sogar die Geschichte Europas.
Ruhig und sachlich erzählt Balzano die wahre Geschichte des kleinen Bergdorfs Graun im Oberen Vinschgau anhand der fiktiven Hauptpersonen, der jungen Deutschlehrerin Trine und ihrer Familie. Zwei Ereignisse bestimmen ihr Leben, denen sie vergeblich erbitterten Widerstand entgegensetzen:
Das sogenannte „Hitler-Mussolini-Abkommen“, das Italienisierungsprogramm, stellt 1939 die deutschsprachigen Südtiroler vor die Wahl, in das ,Deutsche Reich‘ abzuwandern oder als Bürger zweiter Klasse in ihrer Heimat zu bleiben. Mehr als drei Viertel der Südtiroler optieren für die Abwanderung. Trina entscheidet sich für ihr Dorf, ihr Zuhause. (Die Ich-Erzählerin Trina richtet ihre autobiografischen Aufzeichnungen an ihre geliebte Tochter Marica, die schon lange nicht mehr in Graun lebt. Trinas Schwägerin und ihr Mann haben das kleine Mädchen eines Tages einfach entführt und mit nach Deutschland genommen.) Als die faschistische Schulreform an allen Schulen die deutsche Sprache verbietet, unterrichtet Trina heimlich in Kellern und Scheunen. Nach dem Einmarsch der Nazis in Norditalien überleben Trina und ihr Mann Erich unter widrigsten Umständen in den Bergen.
Als ein Energiekonzern für einen Stausee Felder und Häuser überfluten will, leistet sie Widerstand – mit Leib und Seele. Bis zum Schluss wehren sich Trina und ihr Mann mit vielen Vinschgauern, allen voran Pfarrer Alfred Rieper, gegen die Vertreibung. 1949/50 wird das Projekt des ehrgeizigen Staudammprojekts Reschensee, dessen Bau immer wieder unterbrochen worden war, vollendet. Seinen Fluten fallen 163 Häuser in Graun und Reschen und fruchtbarer Kulturboden zum Opfer. Rund 1000 Menschen sind von der Katastrophe betroffen.120 bäuerliche Betriebe verlieren ihre Daseinsgrundlage.
Überzeugend geht Balzano das Thema der kulturellen Entwurzelung durch staatlich verordnete Identitäten an: anhand eines Dorfes und einer Familie. Der denkmalge-schützte Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert wird in seiner spannend und dicht erzählten Geschichte zum Symbol des Untergangs, vielleicht aber auch des Widerstands. Dass Balzano (1978 in Mailand geboren) als Italiener die Geschichte von Graun erzählt, wurde in Südtirol übrigens als Zeichen der Versöhnung verstanden.
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Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt
Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Carl Heinz Ostertag, Arche Verlag, Zürich 2020, 411 Seiten, 24 €
So rehäugig Ann auch durchs Leben geht, so rücksichtslos nimmt sie sich, was sie will. Vicki Baum erzählt von einer Frau, der man nicht in die Quere kommen will – und deren Bann man sich doch bis zur letzten Seite nicht entziehen kann. Zwölf Jahre nach „Menschen im Hotel“ erschien 1951 „Vor Rehen wird gewarnt“ (auf Deutsch 1960). Ihr bester und lange Zeit vergessener Roman in neuer Übersetzung präsentiert Vicki Baum als kunstvoll ironische sowie literarische Meistererzählerin.
„Vor Rehen wird gewarnt“ ist ein äußerst unterhaltsamer, psychologisch raffinierter, spannender, bisweilen humorvoller Roman über eine ungewöhnliche Frau und ein amerikanisches Gesellschaftsporträt der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts.
Die Rahmenhandlung des Romans bildet eine Zugfahrt von San Francisco nach Boston, die die 65-jährige Ann Ambros mit ihrer Stieftochter Joy unternimmt. Joys jüngerer Halbbruder wird aus dem Krieg zurückerwartet und die Mutter möchte ihn persönlich empfangen. Joy fühlte sich ihrer Stiefmutter gegenüber lange verpflichtet, aber deren Absicht, die Ehe ihres vergötterten Bruders zu zerstören, bringt das Fass zum Über-laufen, und nach einem Handgemenge stößt Joy Ann zu Beginn des Romans kurzerhand aus dem fahrenden Zug.
In Rückblenden erzählt Vicki Baum von Anns Leben und der Spur der Verwüstung, die sie überall hinterließ. Sie manipulierte die Menschen in ihrem Umfeld, überzeugt, im Recht zu sein, bekam fast immer, was sie wollte, und wurde doch nie glücklich.
Ann und ihre Schwester Maud sind Sprösslinge eines wohlhabenden Unternehmers in San Francisco. Hier lernen sie den jungen begabten und attraktiven Wiener Violinisten Florian Ambros kennen, in den sich Ann schon als 15-Jährige verliebt hatte. Ambros aber heiratet die unscheinbare Maud, ist glücklich mit ihr und der gemeinsamen Tochter Joy. Ann hingegen angelt sich aus Frust (und Geldgier) einen steinreichen Briten, den sie verabscheut. Das Glück der Schwester ist ihr ein Dorn im Auge. Geschickt arbeitet sie an dessen Zerstörung, um dann Mann, Kind und Haus an sich zu reißen.
Neben der umwerfenden Charakterisierung Anns lernt der Leser den zwischen zwei Frauen hin und her gerissenen schwachen Geigenvirtuosen Florian Ambros sowie dessen eigenwillige Tochter Joy näher kennen. Und selbst das Wesen jeder Nebenfigur ist überzeugend gezeichnet. Vicki Baum versteht etwas davon, Menschen auf den Grund ihres Herzens zu sehen. Vor allem aber versteht sie es, diese Erkenntnisse in unwiderstehlicher Weise zu Papier zu bringen, was zum Beispiel Klaus und Erika Mann dieses Kompliment entlockte: „Vicki Baum weiß so viel von der Welt, sie kennt so gut die Menschen, sie begreift so genau und warmherzig ihre Schicksale und die Beziehungen, die sie miteinander verknüpfen.“
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Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand
Roman, Berenberg Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 22 €
Bombay, 1764. Zwei Männer, gestrandet auf einer Insel vor der indischen Küste, ein Deutscher und ein Perser. Beide hatten andere Ziele, haben verschiedene Perspektiven auf die Welt.
Wunnickes poetische Wissenschaftsgeschichte erzählt von einem kleinen Abschnitt der Arabienreise des weltreisenden Kartografen Carsten Niebuhr, der in seinem berühmten Reisebericht von 1772 nicht vorkommt: seinem Aufenthalt auf der struppigen Insel Elephantai, dem die Autorin die fiktive Begegnung mit einem persischen Astrolabienbauer (ein Astrolabium ist ein astronomisches Rechen- und Messinstrument) hinzufügt.
Man spricht leidlich Arabisch genug, um die paar Tage bis zu ihrer Rettung gemeinsam herumzubringen. Um sich ost-westlich misszuverstehen und freundlich über Sternbilder zu streiten (denn wo der eine eine Frau erkennt, sieht der andere lediglich deren bemalte Hand). Trotz aller Übersetzungsverwirrungen und kontinuierlichem Missverstehen entwickeln sie eine skurrile Freundschaft und kommen dabei jeder für sich zu dem Schluss, dass ihre Art, sich nur mit ihren jeweiligen vom Glauben diktierten Erklärungsmustern über die Welt zu verständigen, eigentlich lächerlich ist. „Die Dame mit der bemalten Hand“ ist ein wunderbar feinsinniges Buch über die Begegnung zweier Menschen, zweier Kulturen und über die Kraft des Erzählens, ein Roman, der alles verknüpft: Götter und Menschen, Himmel und Erde, Orient und Okzident.
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Markus Orths: Picknick im Dunkeln
Roman, Hanser Verlag, München 2020, 240 Seiten, 22 €
Eine unglaubliche, unerhörte Begegnung, die den Bogen spannt über siebenhundert Jahre Weltgeschichte: Zwei Männer treffen sich in vollkommener Finsternis. Sie wollen ans Licht, sie tasten sich voran, führen irrwitzige Gespräche und teilen die Erinnerungen an zwei haarsträubend unterschiedliche Leben. Die beiden Männer sind Stan Laurel und Thomas von Aquin. Die beiden trennen nicht nur siebenhundert Jahre. Für Thomas von Aquin, den großen Denker des Mittelalters, ist ein Leben ohne Gott unvorstellbar. Der begnadete Komiker Stan Laurel wiederum kann nicht glauben, dass der große Kirchenlehrer seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr gelacht hat. Das war, bevor die Eltern ihn zu den Benediktinern steckten. Im Kloster entdeckt er das Wunder der Wörter und Gedanken. „Ich denke immer”, sagt er von sich. Aber wozu Lachen gut sein soll, versteht er einfach nicht und bringt damit Stan in die Bredouille. Der versucht, was ihm selbstverständlich ist, zu erklären. Dazu muss er seinem Gefährten erzählen, was sich seit dessen Tod 1274 in der Welt alles getan hat, von der Entdeckung Amerikas bis zum Kino. Aber erklären Sie mal jemandem das Kino, der elektrisches Licht nicht kennt. Und versuchen Sie mal, jemandem in einem stockdunklen Raum einen Sketch vorzuführen, ihn zum Lachen zu bringen.
Markus Orths führt auf elegante Weise vor, wie man miteinander reden, sich verständigen und schließlich verstehen kann, auch wenn man von denkbar weit entfernten Positionen herkommt.
Ein geistesblitzender und schräger, aber auch ernsthafter und bewegender Roman über die Kraft des Gesprächs und des gegenseitigen Verstehens, ein Roman des Lachens und des Denkens, der zeigt, wie sehr wir auf beides angewiesen sind.
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Ann Petry: Die Straße
aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling, mit einem Nachwort von Tayari Jones, Nagel & Kimche, München 2020, 384 Seiten, 24 €
„The Street“ erzählt die erschütternde Geschichte einer jungen schwarzen Frau im Harlem der 1940er Jahre. 1946 erstmals erschienen, war der Roman ein Sensationserfolg von enormer politischer Brisanz, der sich über 1,5 Millionen Mal verkaufte. „Die Straße“ ist eine aufwühlende Wiederentdeckung über die verheerenden Folgen der Armut für die Menschlichkeit der betroffenen Personen. Eine junge schwarze Frau verlässt mit ihrem Sohn ihren Mann, der sie betrogen hat, und zieht auch bei ihrem Vater wieder aus, weil sie ihren achtjährigen Sohn dort schlechten Einflüssen ausgesetzt sieht. In Harlem in der 116. Straße findet sie eine schäbige Mietwohnung, mit einem Bordell im Erdgeschoss und einem übergriffigen Hausmeister. So froh sie ist, erstmals eine eigene Wohnung zu haben, so sehr sehnt sie sich nach einem Zuhause in einer besseren Umgebung, denn es ist ihr erklärtes Ziel, den Sprung in ein besseres Leben zu schaffen und ihren Sohn trotz Armut, Gewalt und rassistischer Verachtung zu einem anständigen Menschen zu erziehen. Unerschütterlich kämpft die alleinerziehende Mutter um ihre Würde.
Doch die Brutalität der Straße stellt sich ihr mit aller Macht in den Weg. Glasklar und einfühlsam schildert Ann Petry ihre Personen und deren Milieu. In wortgewaltigen Bildern beschreibt sie den elenden Kreislauf des Lebens in Harlem (ausgezeichnet übersetzt von Uda Strätling), aus dem sich die Menschen, egal mit wieviel Mühe, nicht lösen können.
Tatsächlich ist Petrys tragische Heldin eine immens vielschichtige, kämpferische, idealistische und am Ende schicksalhaft scheiternde Gestalt, die nach dem Besten für sich und ihren Sohn strebt, aber durch die Verhältnisse in einen bodenlosen Abgrund gerissen wird. In ihr spiegelt sich einerseits der amerikanische Geist, Schmied des eigenen Glücks sein zu können, andererseits ist sie den gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit heillos ausgesetzt: Rassismus, Sexismus, männliche Gewalt und eine verheerende soziale Schieflage – alle diese ausgrenzenden Momente überlagern sich, wirken ineinander, verstärken sich gegenseitig. Und haben sich bis heute wenig geändert.
Ann Petry (1908-1997) besitzt den unverwechselbaren Ton einer überragenden Erzählerin, ihr Stoff hat bis heute nichts von seiner erschütternden Dringlichkeit verloren.