Kleines Hakenkreuz auf der Schüssel

16.04.2023 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden, Viola Bolduan


Im polnischen Legnica (früher Liegnitz) stehen Grabsteine mit deutschsprachigen Inschriften. Wie sind die dahin gekommen? Die Schüssel im Haus trägt am Boden eine kleine Hakenkreuz-Gravitur. Warum? Fragen wie diese stellte sich die heutige Autorin und Übersetzerin Karolina Kuszyk, als sie in der westpolnischen Heimat aufwuchs. Die Neugier ließ sie nicht los, bis aus den Fragen Recherchen wurde und aus den Recherchen ein Buch. „Poniemieckie“ heißt sein polnischer Titel, erschienen 2019; in der deutschsprachigen Ausgabe (2022) wird „poniemieckie“, wörtlich „ehemals deutsch“, bildhaft fantasievoll übertragen zu „In den Häusern der anderen“. Mit diesem Buch ist die Autorin Gast einer Lesung, veranstaltet vom Quartett: Literaturhaus und dessen Förderverein, Presseclub und Freundschaftsverein Wiesbaden-Wroclaw in der Reihe „Gespräche in der Villa“. Entsprechend dicht gedrängt sitzt ein interessiertes Publikum vom roten bis in den gelben Salon hinein, nach eifrigem Besuch im zum Anlass bewirtschafteten Café.

Moderiert von Stefan Schröder, Vorsitzender des Presseclubs, erzählt Karolina Kuszyk in fließendem Deutsch von ihrer Neugier auf die Vergangenheit ihrer polnischen Heimat, die Deutsche früher als Niederschlesien kannten. Historiker Schröder rekapituliert die Teilungsgeschichte Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion (u.a.) die polnischen Ostgebiete vereinnahmte und Polen als Entschädigung deutsche Ostregionen zugeschlagen wurden.

Karolina Kuszyk hat nun untersucht, wie die Zwangsumgesiedelten sich auf neuem Terrain verhielten, die Gebliebenen sich mit neuer Situation zu arrangieren hatten und welche Phasen diese Um- und Eingewöhnung durchlief. Bis 1949, so referiert sie, hatte das „Ministerium für wiedergewonnene Gebiete“ alles Vorgefundene zum Eigentum des polnischen Staates erklärt, das er wieder verkaufen konnte. „Gekauft“ wurde auch – in Wildwest-Manier. Oder aber einfach genommen, geplündert, geraubt. Vor staatlicher Zuordnung von Wohnungen herrschte das Recht des Stärkeren. Banden, Milizen und staatliche Dienststellen vereinnahmten, was sie zu brauchen meinten. Wo noch Deutsche lebten, erfuhren sie, was Polen unter deutscher Besatzung widerfahren war. „Umkehrung des Kriegszustands“ fasst es Stefan Schröder zusammen. Und gleichzeitig: Bitte, keine Erinnerung an den Krieg, also Verheimlichung der Vergangenheit; Vorgeschichte blieb, so Karolina Kuszyk, ein „schambehaftetes Geheimnis“.

Danach herrschte eine Zeit der Stagnation: Die nächste Generation kümmert sich mehr um ihre Zukunft als um die Vergangenheit. Die wieder unbefangeneren Enkelinnen und Enkel hingegen interessieren sich plötzlich dann doch für das kleine Hakenkreuz auf dem Schüsselboden und den deutschen Grabstein auf dem polnischen Friedhof.

Karolina Kuszyks Buch folgt der Aufdeckung deutscher Vergangenheit in polnischer Geschichte anhand zitierter Erzählung und in Form alltäglicher Gegenstände. Da findet sich ein Einmach-Glas, möglicherweise gefüllt mit Marmelade, oder doch vergiftet? Was macht der „Werwolf im Kompott“ oder welches Gewebe sitzt da im Spiritus? Was sucht der deutsche Gast, wenn er im Garten des nun polnischen Hauses gräbt? Wenigstens darf er graben, denn Feindschaftsgefühl und Misstrauen sind gewichen. In Westpolen, so Karolina Kuszyk, habe „jeder Haushalt heute seinen Deutschen“, der dort nun der eigenen Vergangenheit nachspürt. Die Häuser spielen ihre Rolle als private diplomatische Drehtüren fürs Gehen und Kommen und Kommen und Gehen in Gegenwart wie Vergangenheit – gerade, wenn sie die der anderen sind.