„Nicht über, sondern mit Hannah Arendt“

18.04.2022 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden, Viola Bolduan


Schlangenbildung am Eingang – viele Besucher*innen stehen in der Türe zum Foyer der Gründerzeit-Räume in der Bel Étage des Literaturhauses und möchten Eintrittskarten zur Lesung mit Hildegard E. Keller, die ihren Roman über Hannah Arendt „Was wir scheinen“ präsentieren will. Es ist der dritte Abend in der Reihe „Literatur und Philosophie“, zu dem der Förderverein Literaturhaus einlädt. Es ist ein besonderer Abend, denn die Autorin aus der Schweiz hat eine Multi-Media-Performance versprochen und wird vom stellvertretenden Generalkonsul der Schweiz, Hans-Peter Willi, begleitet, der nicht nur selbst darauf neugierig ist, sondern in großer Kühltasche auch Wein aus dem Wallis mitgebracht hat für den anschließenden Empfang.

Zunächst aber platzt der Rote Salon aus seinen Nähten. Zusätzliche Stühle werden herangekarrt, und von ganz hinten um die Ecke hört man zumindest, auch wenn die Sicht auf den aufgestellten Monitor behindert ist. Auf dem Bildschirm wird Hildegard E. Keller Dokumente zeigen, die Hannah Arendts Leben begleitet haben, wird hier auch Lieder einspielen, Kompositionen erst kürzlich entdeckter Gedichte der Hannah Arendt. Dass die vielseitige Literaturwissenschaftlerin – ein „beherztes und kenntnisreiches Multitalent“ hat sie Vereinsvorsitzende Rita Thies in ihrer Begrüßung genannt – „nicht über, sondern mit“ Hannah Arendt während des Schreibens gefühlt, gedacht und gearbeitet hat, wird von Anfang an deutlich.

Hildegard E. Keller steht vor dem überquellenden Saal mit Headset auf dem Podium, spricht frei in ihren Überleitungen zu den einzelnen ausgewählten Lese-Passagen aus ihrem Buch. Seinen Titel, „Was wir scheinen“, hat sie übrigens einem Hannah-Arendt-Gedicht entlehnt. In Wiesbaden darf das „Wiesbaden-Kapitel“ aus dem Buch natürlich nicht fehlen. Es ist Februar 1950, als Hannah Arendt aus ihrem Exil in New York beauftragt ist, Inventurlisten von geraubtem jüdischem Kulturgut zu erstellen. Sie sieht den Enten auf dem Kurhaus-Weiher zu und schaut auf die Ruinen des damals zerstörten Kurviertels der Stadt und erkennt die darüber liegende Trauer. Zum ersten Mal sticht ihr hier der Name „Adolf Eichmann“ ins Bewusstsein. Sie wird später berühmt werden mit ihrer Reportage über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, veröffentlicht 1963: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Die Publikation mit ihrer Interpretation wird ihr Bewunderung, mehr aber noch Hass und Häme einbringen. „Was hat das mit ihr gemacht?“ Die Frage hat Hildegard E Keller beschäftigt und wollte sie beantworten, indem sie eine Lebensreise begleitet, „was nur in einem Roman möglich war“.

In einem Roman, der dann eben auch ganz andere Seiten der Philosophin aufdecken kann, wie etwa Hannah Arendts Hang zum Schönen und Luxuriösen, dokumentiert in ihrem Aufenthalt im Nobelhotel „Dolder“ am Zürichberg. Dort hat Autorin Keller im Oktober 2021 bei „Bacon & Egg und Champagner“ die vertonten Arendt-Gedichte uraufführen können. Im Literaturhaus gibt es vom Konsul kredenzten Fendant, der nur knapp den ersten Ansturm auf die am Abend geöffnete Theke überlebt. Danach gibt es Fördervereins-Wein aus dem Rheingau. Der schmeckt den vielen, die sich nach der Performance im Wintergarten und den Café-Räumen treffen, auch. „Wir haben uns sehr wohl gefühlt“ in der gelösten Atmosphäre eines langen Abends, lautet die Reaktion der Gäste. Der Konsul dankt und die Autorin nimmt bis zum Schluss an vielen Gesprächen teil.