Robert Seethalers „Der letzte Satz“

12.10.2020 / Viola Bolduan


Der österreichische Autor Robert Seethaler schreibt in „Der letzte Satz“ über seinen Landsmann Gustav Mahler: Woran erinnert sich der sensible Musiker, was denkt und was fürchtet der Todkranke auf seiner letzten Fahrt von New York zurück nach Europa? Seethaler lässt Mahler im Roman dessen wesentliche Lebensetappen und -momente Revue passieren – nur, über dessen Musik äußert er sich nicht. Warum der Schriftsteller das nicht wagt und viele andere Fragen mehr beantwortet Christoph Nielbock, Leiter der WMK und WMA (1991-2019) und treibende Kraft des Wiesbadener Musikgeschehens, im Interview.* Als Einstimmung in den Wehmutsklang des Romans schließt sich ein Podcast mit Mahlers „Adagietto“ aus der 5. Symphonie an (bekannt aus dem Soundtrack des Films „Tod in Venedig“).*


Herr Nielbock, wie gut haben Sie Ihre Vorstellung vom Komponisten Gustav Mahler in Robert Seethalers Roman „Der letzte Satz“ widergespiegelt gesehen?

Seethalers Roman ist eine gelungene Option, die komplexe Empfindungswelt eines genialen Künstlers an der Bruchkante zwischen Spätromantik und Moderne in Worte zu fassen. Der Autor orientiert sich dabei sehr genau an den biographischen Fakten und Ereignissen. Seine „Interpretation“ ist natürlich eine subjektive Fiktion. Die sensible Melange aus Selbsterkenntnissen, Erinnerungen und Enttäuschungen zeigt uns die ganze Zerrissenheit und Spannung eines hochsensiblen Genies. Der Roman besitzt viele Momente, die der inneren Verfasstheit des Menschen Mahler sicherlich näher kommen.

Das Roman-Thema ist Mahlers letzte Überfahrt von New York nach Europa als müder und kranker Mann – haben Sie durch Seethalers literarische Darstellung neue Eindrücke über Leben und Person des Komponisten gewinnen können?

Eine literarische Darstellung ist ja sui generis keine fachwissenschaftliche Biographie, bei der es um die objektive Aufbereitung der Fakten geht. Nichtsdestotrotz – Seethaler spürt Mahlers seelische Anspannungen und inneren Kämpfe äußerst sensibel auf. Behutsam und mit subtilem Feingefühl versetzt er sich in das Seelenleben eines Künstlers, der seine Lebensjahre und sein Schaffen bilanziert. Seethalers Annäherung ist durchaus eine Ergänzung, um sich einer derart komplexen Persönlichkeit wie Mahler zu nähern.

Robert Seethaler schreibt: „Einmal hatte er (Mahler) seine Notenblätter mit Blut gesprenkelt. Ein Schriftsteller hätte das aufgegriffen, hätte die winzigen Spritzer … zu einem brauchbaren Motiv anordnen lassen, zu … einem Aufbruch in einen neuen Satz oder so etwas.“ Inwiefern kann, wie hier insinuiert, Literatur Musik ergänzen? 

Musik und Literatur stehen sich durch wesensverwandte Züge immer schon nahe. Beide Kunstformen lassen innere Bilder entstehen, setzen Fantasien frei und besitzen starke emotionale Wirkmächte. Literatur inspiriert Musikwerke (vom Kunstlied bis zur Oper) wie umgekehrt Musik in der Literatur be-/verarbeitet wird (E.T.A. Hoffmann, Schumann, Franz Werfel, Thomas Mann, Dieter Kühn, Peter Härtling, etc.). Beide Künste können sich durch die wechselseitigen Beziehungen sinnvoll ergänzen.

Im Buch werden nicht allzu viele Mahler-Werke benannt. Die Sinfonien 8 und 9, sowie „Das Lied von der Erde“ sind erwähnt – ist das musikalisch repräsentativ?

Mahler führte ein künstlerisches Doppelleben als rastloser „Stardirigent“, der in der wenig verblieben Freizeit seine eigenen Werke schuf. Das Oeuvre ist daher überschaubar: neun Sinfonien und mehrere Liedzyklen (Lieder eines fahrenden Gesellen, Kindertotenlieder etc.). Alle Werke stehen in enger Beziehung zueinander. Sie zeigen eine klare Entwicklungslinie und ihre Faktur ist immer äußerst differenziert. Mahler selbst hielt die 8. Sinfonie für sein wichtigstes Werk, nicht nur wegen des triumphalen Erfolges bei der Uraufführung 1908. Zusammen mit dem „Lied von der Erde“ und der 9. Sinfonie sind diese „Spätwerke“ daher durchaus repräsentativ für Mahlers Schaffen.

Über die Grundlage seines musikalischen Schaffens lässt Seethaler den Komponisten sagen: „Gehör und Fleiß“. Ist das Ihrer Meinung hinreichend?

Zweifellos sind Gehör und Fleiß unverzichtbar Grundlagen – das gilt eigentlich für jeden Musiker. Ein differenziertes Hörvermögen ist unverzichtbar und ohne Fleiß ist das enorme Kompendium vom Handwerk bis zur Theorie kaum zu bewältigen. Allerdings gesellen sich zu diesen Kernkompetenzen noch eine Reihe anderer „günstiger“ Eigenschaften. Die eigentliche Begabung und der sichere Instinkt für Musik sind ebenso wichtig wie Nervenstärke, Ausdauer, Intuition und künstlerisches Charisma. Die Frage nach den Voraussetzungen einer musikalischen Karriere ist allerdings ein ganz besonders weites Feld. Ein Blick in die Autobiographien großer Künstler lässt ahnen, dass Ausnahmen die Regeln bestimmen und viele unterschiedliche Wege zum Erfolg führen.

Als gefeierter Dirigent bezeichnet Mahler im Buch seine Wiener Hofoper auch eine „faule Bande … verlogen und hinterfotzig“. Wie schwierig ist es ihrer Erfahrung nach, ein Orchester zu disziplinieren?

Orchestermusiker sind hochspezialisierte Instrumentalisten, die sich ihre eigene Künstlerschaft erworben haben. Sie sind eminente Experten auf ihrem Instrument, und jeder für sich besitzt eine individuelle künstlerische Vorstellung. Das Geschick des Dirigenten besteht darin, aus diesem schillernden Potenzial von Solisten ein homogenes Klangbild zu formen. Blanke Disziplinierung lässt keine künstlerische Ensembleleistung entstehen. Geschickte „Managementqualitäten“ und charismatische Überzeugungskraft sind daher vonnöten, wenn ein Dirigent mit dem Ensemble seine künstlerische Auffassung erfolgreich verwirklichen möchte.

„Man kann über Musik nicht reden“, sagt Seethalers Mahler. Was macht denn dann ein akademischer Lehrer?

Musikalische Fähigkeiten fallen weder vom Himmel, noch klappt das mit einem simplen Download. Wer sich die „Kunst des Musizierens“ aneignen will, benötigt einen erfahrenen Mentor. Der Erwerb motorischer wie gestalterischer Fähigkeiten setzt eine lange, manchmal auch mühsame Entwicklung voraus. Diesen Prozess erfolgreich zu befördern, ist die Aufgabe des Pädagogen. Jemand, der Fehler exakt analysiert, ohne zu demotivieren und der sukzessiv den musikalischen Horizont erweitert. Und ja – natürlich muss er auch reden, um seinem Eleven mit dem Wesen und der emotionalen Mechanik der Musik vertraut zu machen. Was man allerdings nicht mit Worten erklären kann, sind die emotionalen Wirkmächte, mit denen uns die Musik das Numinose erfahren lässt.

Seethalers Mahler behauptet: „Musik brauche nichts und niemanden … weder Musiker noch Zuhörer … sie sei einfach da“. Wissen Sie, wo sie ist, wenn sie niemand aufführt und anhört?

„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Mit diesen Versen hatte Eichendorff das ästhetische Programm der Romantik umschrieben. Abgewandelt drückt sich darin auch ein zentrales Mysterium der Musik aus. Sie kann sich nur in ihrer physikalischen Vergänglichkeit offenbaren und ist unverbrüchlich an den Ablauf der Zeit geknüpft. Gedruckte Noten sind unbelebte Symbole, die wir nur mit innerem Ohr „lesen“ können. Erst wenn geordnete Schallereignisse entstehen und uns als zeitlich begrenzte Impulse erreichen, können wir das vergängliche Wunder der Klangkunst erleben. Ebenso wenig wie Zeit lässt sich auch Musik nicht „festhalten“ – dafür aber immer wieder neu erwecken. Bis dahin schlummert sie gewissermaßen im zeitlosen Nichts oder in unserer inneren Vorstellungswelt.

Musikgeschichte lehrt die Rahmenperson des Schiffsjungen im Roman eines Besseren, der nach Mahlers Tod bedauert, dass seine „Musik (etwas Großes, Unberechenbares) nun für immer verloren ist“. Das ist nun nicht der Fall – im Gegenteil: Warum wird Mahler denn immer wieder aufgeführt?

In Mahlers Musik spiegelt sich der ganze Kosmos unserer Gefühlswelt. Die üppigen Tonbilder strahlen starke Emotionen aus. Die ganze Bandbreite der menschlichen Leidenschaften zwischen Jubel und Lebensfreude, Verzweiflung und Resignation findet in Mahlers Klangwelt unmittelbaren Ausdruck. Seine Tonsprache ist voller Temperament, lebensnah und fasslich, sie lässt uns viel Herzblut spüren. Volkstümliche Momente und ausgeprägtes Melodieempfinden erleichtern den Zugang. Kurzum – eine Musik, die den Ohren des/r Hörers/in mehrfach entgegenkommt.

Welche spezielle Mahler-Tradition hat Wiesbaden?

Einer der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, Carl Schuricht, setzte sich als langjähriger Generalmusikdirektor (1923-44) während seiner legendären Wiesbadener Jahre engagiert für Mahler ein. Bereits 1913, nur drei Jahre nach der fulminanten Münchner Uraufführung, gelang es Schuricht, die imposante „Sinfonie der Tausend“ (8. Sinfonie) in Wiesbaden aufzuführen. Er erwarb sich dann rasch einen internationalen Ruf als Wegbereiter und Experte für die Werke Mahlers. Schuricht festigte Wiesbadens Ruf als Musikstadt u.a. mit dem 1. Deutschen Mahlerfest, dass er 1923 in Wiesbaden durchführte.

Was schätzen Sie am Komponisten Gustav Mahler am meisten?

Die Unmittelbarkeit, die Expressivität und sprechende Eindringlichkeit. Mit raffinierter Präzision und komplexer Könnerschaft setzt Mahler das ganze Farbspektrum des Orchesterapparates ein, um hochenergetische Wirkungen zu erzielen. Das ist spannend zu hören. Dabei wollen die opulent-schillernden Tonschöpfungen nie als Heile-Welt-Musik unterhalten. Ihre hautnahe Spannung bringt die ganze Tiefe menschlicher Gefühle zum Ausdruck – das Beste, was uns Musik zu geben vermag.

 Was sollte man auf jeden Fall von Gustav Mahler gehört haben?

Es gibt jede Menge Alternativen zur Popularität des Adagiettos aus der 5. Sinfonie. Die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ enthalten auf kleinem Raum alle wesentlichen Merkmale der Mahler‘schen Musik und besitzen in ihrer Schlichtheit eine anrührende Tonpoesie. Sprechende Eindringlichkeit, aber auch bedrückende Wehmut prägen die bittersüßen „Kindertotenlieder“. Die 1. Sinfonie steht noch in der klassisch-romantischen Tradition, weist aber schon alle Merkmale der späteren Werke auf, wie Volkstümlichkeit, krasse Verfremdungen, abrupte Stimmungswechsel und ein furioses Finale. Zum Reinhören in den Klangkosmos von Mahler gehört sicher auch die energiegeladene 8. Sinfonie. Der Bogen reicht vom jubelnden Pfingst-Hymnus bis zur Apotheose mit Goethes Faust II „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis…“ – das ist schwelgende Spätromantik im XXL-Format.

Würden Sie Seethalers Roman Musikern, gar Gustav-Mahler-Experten empfehlen?

Der Roman zeichnet sich durch ein ästhetisches Sprachgefühl, eindringliche Bildhaftigkeit und feinsinnigen Respekt vor einem großen Künstler aus. Allein deswegen ist er schon lesenswert – auch wenn man mit Vita und Werk Gustav Mahler bestens vertraut ist.


*Christoph Nielbock nahm seine erste Lehrtätigkeit in Wiesbaden 1978 am damaligen Konservatorium auf. Er initiierte die Reform des Musikschulwesens in Wiesbaden und begleitete den Prozess der Gründung von WMK und WMA. Von 1991 an zunächst als künstlerischer Direktor und von 1997-2019 als Direktor und Geschäftsführer.  Künstlerisch-pädagogisch war er für die Orchester- und Chorarbeit beider Institute verantwortlich. Darüber hinaus entwickelte er verschiedene städtische Musik-Formate, wie etwa  „Wiesbaden singt“, und führte internationale Klavierwettbewerbe durch. Er bekleidete verschiedene Vorsitzämter und wurde 2019 für seine Verdienste um das städtische Musikleben mit der „Wiesbadener Lilie“ geehrt.

Foto Christoph Nielbock: © WMK/Doreen Kimpel

*Die Aufnahme des „Adagietto“ aus Gustav Mahlers 5. Symphonie wird gespielt vom Symphonieorchester Radio Luxemburg, Dirigent: Pierre Cao, mit freundlicher Genehmigung der Online-Agentur „musicalia“.