Professor Dr. Wolfgang Bunzel, Leiter der Brentano-Abteilung im Goethe-Haus Frankfurt, im Interview über die Beziehung zwischen Bettine von Arnim und dem Studenten Julius Döring
Herr Professor Bunzel, warum erscheinen die Briefe zwischen Bettine von Arnim und Julius Döring aus den Jahren 1839/41 unter dem Titel „Letzte Liebe“ erst jetzt, 2019?
Zweimal hatte Bettine von Arnim vor, die mit Döring gewechselten Briefe bzw. einen Teil davon zu veröffentlichen. Da Döring 1846 seine Zustimmung zur Verwendung seiner Briefe verweigerte (1839 war er damit noch einverstanden), unterblieb die Publikation.
Wie wurde die Korrespondenz entdeckt?
Da der Briefwechsel mit Döring sehr lange in Familienbesitz blieb, war er für die Öffentlichkeit und für Forscher unzugänglich. Erst als er Ende der 1950er Jahre dem Freien Deutschen Hochstift vermacht wurde, konnten die Dokumente gesichtet werden. Bereits 1963 brachte Werner Vordtriede im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Bettine von Arnims Brief an Döring zum Druck; er kündigte damals auch die Publikation der Gegenbriefe an, zu einer solchen kam es aber nicht.
Warum?
Spätere Forscher interessierten sich wenig bis gar nicht für Bettines Briefpartner Julius Döring, weil er nicht hinreichend prominent war. Außerdem brachte man der (Liebes-)Beziehung beider wenig Verständnis entgegen. Selbst die verdienstvolle Bettine-Biografin Ingeborg Drewitz war peinlich berührt von dieser scheinbar unpassenden Liaison und deutete sie noch 1969 abschätzig als Zeichen der „Hysterie der Wechseljahre“. Ein wirkliches Verständnis für die tiefe emotionale Beziehung und das Liebesverhältnis einer Frau Mitte 50 zu einem 32 Jahre Jüngeren war zu jener Zeit noch nicht vorhanden.
Wie lange haben Sie an der Edition des Buches gearbeitet?
Vier Jahre.
Inwiefern wirft dieser Briefwechsel ein neues Licht auf die Person Bettine von Arnims?
Bettine Brentano/von Arnim hatte – obwohl sie viele Männer schwärmerisch verehrt hat – zeitlebens nur einen einzigen Liebespartner, dem sie auch ihr Leben lang treu geblieben ist: nämlich Achim von Arnim. Allerdings lebte sich das Paar in den 1820er Jahren zunehmend auseinander. 1822 schrieb Bettine von Arnim sogar an ihre Schwester Gunda: „Ich habe die 12 Jahre meines Ehestands leiblich und geistigerweise auf der Marterbank zugebracht“. Die geistig-intellektuelle Zuwendung zu anderen Männern kompensierte daher auch einen realen Mangel. Mitte der dreißiger Jahre rechnete Bettine von Arnim nicht mehr damit, dass sich an dieser Situation der Entbehrung etwas ändern würde – bis Döring kam …
Und als Döring kam?
… und ihr zu verstehen gab, dass er sie auch erotisch begehrt. Anfangs hielt sie ihn noch auf Distanz und verwies auf das Treueversprechen gegenüber – dem längst toten – Arnim, dann aber öffnete sie dem jungen Mann, der sie liebend verehrte, ihr Herz. Dass die Beziehung zu Döring tatsächlich ein Liebesverhältnis war, dass Bettine von Arnim sich dies eingestand und es bejahte und dass sie Glück darüber empfand, geliebt und begehrt zu werden, das ist das eigentlich Neue. In seinem ganzen Ausmaß gesehen werden kann das erst durch die bislang unbekannte Hälfte der Korrespondenz, denn jetzt erst liegt die gesamte Geschichte zutage.
Wodurch lässt sich denn die 54 Jahre alte arrivierte Dame von einem 22-jährigen Student bezaubern? Und was will er umgekehrt von ihr?
Von seiner Jugend, seinem Enthusiasmus, seinem dichterischen Talent und seiner Bereitschaft, sie zum Bezugspunkt seines Existenz zu machen. Für Döring umgekehrt ist Bettine von Arnim eindeutig die wichtigste und prägende Begegnung seines Lebens. Er wünscht sich eine liebende Mentorin, die ihm hilft, die ungeliebte Durchschnittsexistenz eines Provinzjuristen hinter sich zu lassen und Dichter werden zu können.
Bettine von Arnim hat noch einige Verehrer mehr – schürt sie in ihren Briefen an Julius Döring bewusst dessen Eifersucht?
Nicht wirklich. Dass Bettine von Arnim intensiven Austausch mit anderen jungen Verehrern hat, gehört zu den Gegebenheiten ihrer Autorinnenexistenz. Sie verlangt von allen, die mit ihr Kontakt pflegen, entsprechendes Verständnis und entsprechende Toleranz, zeigt jedem Einzelnen aber immer wieder, weshalb er wichtig für sie ist und weshalb jedes zwischenmenschliche Verhältnis einzigartig ist. Eifersucht ist allenfalls ein Mittel für sie, um das Bemühen des Gegenübers aufrecht zu halten. Bettine von Arnim ist in diesem Punkt also weder kokett noch eine belle dame sans merci.
Wie bewusst plant Bettine von Arnim von Anfang eine Publikation der Korrespondenz?
Von Anfang an war eine Publikation sicher nicht geplant. Allerdings legte Bettine von Arnim in späteren Jahren reale Korrespondenzen häufig so an, dass sie geeignet waren, bzw. Material abwarfen für eine spätere Publikation. Eine starre Grenze von „privat“ und „öffentlich“ gab es für sie nicht. Und auch ihre Korrespondenzpartner wussten durch die Briefbücher, dass Bettine von Arnim private Briefe als Gestaltungsmaterial nutzte. Wenn man mit ihr Briefe wechselte, bestand also die Chance, aber auch die Gefahr, dadurch bekannt zu werden.
Welches Bild von sich selbst wollte sie dadurch in der Öffentlichkeit abgeben?
Das einer engagierten und unerschrockenen Frau, die gegen Missstände vorgeht und die sich besonders um die „Jugend“ kümmert, d.h. den Vertretern der nachkommenden Generation den Weg bereitet. Sie will Orientierungspunkt und Vorbild für die Jüngeren sein – so wie Goethe es früher wie sie war, der ihr aber in politischer Hinsicht gerade nicht als Vorbild dienen konnte.
Welches Selbstbild ist ihr gelungen?
Die Korrespondenz mit Döring führt letztlich das Scheitern ihrer mentorschaftlichen Bemühungen hervor. Döring schafft es nicht, sich von seinen Fesseln loszumachen und endlich gänzlich selbstständig zu sein. Die gedruckten Zeugnisse dokumentieren also zwar eine eher traurige Gesamtbilanz, sie zeigen aber, mit welchem Nachdruck sich Bettine von Arnim für ihr(e) Gegenüber eingesetzt hat. Als Leser denkt man unweigerlich daran: Was wäre gewesen, wenn der/die Briefpartner anders gehandelt hätte/n?
Und was erfahren wir über den Dichter-Wunsch und die Juristen-Realität eines Julius Döring?
Über den Wunsch, Dichter zu werden, erfahren wir sehr viel, über die nüchterne Realität der Ausbildung des juristischen Nachwuchses einiges. In Bezug auf Döring allerdings erzählen die abgedruckten Briefe nur einen kleinen Teil seiner Biografie.
Und woher weiß man dann mehr?
Das Allermeiste musste hier aus anderen Quellen recherchiert werden. Und dies ist die zweite große Neuheit des Buches: Wusste man bis dato von Döring nur, dass er Student und dann Gerichtsassessor war, wird er nun als Person erkennbar, die von Bettine von Arnim politisiert wurde.
Inwiefern hat Bettine von Arnim ihren Briefpartner politisiert?
Er wird im Lauf der 1840er Jahre zu einem mündigen und kritisch denkenden Staatsbürger, der sich nach der Revolution von 1848 demokratisch betätigt und dann – als Strafe dafür – zwangsversetzt wird. Doch auch dann verbittert er nicht, sondern bleibt ein Aufrechter und agiert in den Jahren 1871-76 als Abgeordneter im Preußischen Parlament – ein Weg, der ohne die Vorbildrolle Bettine von Arnims nicht zu denken ist. Aus Döring ist zwar kein Dichter geworden, aber sein Schicksal zeigt, wie man – angeregt durch Bettine von Arnim – auch in bescheidenem Rahmen eine politisch reife und staatsbürgerlich engagierte Persönlichkeit werden kann.
Das Interview führte Viola Bolduan am 2. Juli 2019
Hinweis: „Besuch mit Goethe bei den Brentanos“, Veranstaltung des Fördervereins am 9. August 2019, 17 Uhr, siehe Kalender
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