Im Larvenstatus lebt die Maifliege lange im Flussgrund, bis sie durch die Wasseroberfläche stößt in ihr kurzes Leben: eine Beute der Fische vor Tanz und Paarung. Neue Larven schlüpfen „und harren aus, bis ihr Tag gekommen ist“. Gut für den Angler Matthias Jügler, denn die Maifliege lockt Fische an. Und eine bessere Metapher für seine im Roman „Maifliegenzeit“ erzählte Geschichte hätte er als Autor nicht finden können. Denn das Fazit in der Mitte des Buchs stimmt eben auch für die literarische Aufdeckung einer Schattenseite der DDR-Vergangenheit: „Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert“: Der vorgetäuschte Säuglingstod mit anschließender Adoption durch fremde Eltern. Der 39-jährige, in Leipzig lebende Matthias Jügler erhält am 22. September, 11 Uhr, auf Burg Schwarzenstein für seinen Roman „Maifliegenzeit“ den Rheingau-Literatur-Preis 2024.
Dem Paar Hans und Katrin wird in Naumburg ein Kind geboren, das kurze Zeit später im Jenaer Kinderkrankenhaus für tot erklärt und von den Eltern begraben wird. Katrin hegt Zweifel; ihr Mann, Ich-Erzähler des Buchs, unternimmt nicht viel mehr, als dass er an der Unstrut liebend gern angeln geht. Viele Kapitel über diverse Fischarten, Köder, Fangtechniken fügt Matthias Jügler ein. Am Fluss sitzend und wartend erholt sich der Erzähler vom aufregenden Verdacht, dass der Säuglingstod nur hätte vorgetäuscht sein können. Seine Frau hat sich getrennt und ist schon gestorben, als sich nach 40 Jahren der totgeglaubte Sohn beim Vater meldet.
Soweit zur unerhörten Begebenheit, die offenbar nicht nur Fiktion ist. Die Jury schreibt zur Preisvergabe: „,Maifliegenzeit‘, der (Roman), der einen realen Verdachtsfall zur Vorlage hat, macht einen Schatten der Zeitgeschichte sichtbar, aber erhebt nicht den Anspruch aufzuklären, was damals geschah. Die Literatur bleibt bei sich: als Möglichkeitsraum.“
Die Leben, wäre das Kind nicht für tot gehalten worden, hätten einen anderen Verlauf genommen als unter der existenziellen Kränkung, der Trauer, der müden Abkehr in die Stille der Natur. Doch auch das reicht noch nicht für die insgeheime Wucht dieses Romans. Als Vater und Sohn sich nach langer Zeit begegnen, liegen sie sich eben nicht beglückt in den Armen – sondern der Sohn klagt an: Seine Eltern hätten ihn einfach weggegeben „wie ein Haustier, das einem nicht mehr gefällt“. Der Vater erkennt, dass der Sohn die Lüge für Wahrheit hält – und weiß nicht viel mehr als Anglergeduld dagegenzusetzen. Sie wird enttäuscht. In symbolischer Szene hat der Erzähler den größten Fisch am Haken und verliert ihn wieder… Und doch endet der Roman nicht völlig in Verzweiflung. Der Sohn will schließlich doch mit dem Vater angeln gehen – und wieder ist Maifliegenzeit.
Matthias Jüglers Roman hat ein Nachspiel. „Dieser Roman basiert auf historischen Begebenheiten“, so steht’s im Nachwort. „Seit einigen Jahren ist nachgewiesen, dass es in der DDR Fälle von vorgetäuschten Säuglingstod gab.“ Eine „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ fordert umfassende Aufklärung. Etwa 2.000 Verdachtsfälle soll es geben. Dem hatte die frühere Landesbeauftragte für Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt widersprochen: Es gebe keine wissenschaftlichen Belege. Betroffene freilich hegen Misstrauen und suchen weiter nach ihren verlorenen Kindern. Die Kontroverse aber ficht Matthias Jüglers sehr behutsam erzählten Roman in seinem „Möglichkeitsraum“ nicht an.
Interview Matthias Jügler zu seinem Roman „Maifliegenzeit“:
„Das Angelzeug kommt mit …“
Matthias Jügler erhält für seinen Roman „Maifliegenzeit“ am 22. September den Rheingau-Literatur-Preis 2024. Er spricht über sein Buch, die Debatte, die es ausgelöst hat und über die Auszeichnung.
Ist der Romantitel „Maifliegenzeit“ eine bewusste Camouflage für das Ungeheure fälschlich erklärten Säuglingstod in der früheren DDR, worüber Sie erzählen?
Ja und Nein. Die Maifliege als Eintagsfliege kann auch Symbol sein für das Kind, das da erst einmal weg ist.
Das Angeln dient der erzählenden Hauptfigur zur Beruhigung. Wozu noch?
Die Welt der Fische bietet überhaupt eine Menge literarischer Allegorien.
So auch die, wie mit Ihrem Roman nach Erscheinen umgegangen wurde, als er ein Tabu brach und sich eine öffentliche Debatte eingefangen hat?
Das kann man so sehen. Ich war schon sehr überrascht. Ich habe mich gefühlt, als ob ich in einen Zwei-Fronten-Krieg hineingeraten sei: Einerseits eine Art öffentlicher Gegendarstellung, andererseits Eltern, die sich bestätigt fühlten.
Wie gehen Sie mit dem öffentlichen Druck um?
Ich habe mir sehr schnell eine dicke Haut zugelegt. Ich brauche keinen Anwalt und bin kein Don Quixote. Ich bin Schriftsteller.
Was macht Literatur aus?
Literatur ist Geschichtenerzählen, ein Figurenexperiment, eine Versuchsanordnung.
Sie angeln, Sie schreiben – wie beeinflusst das eine das andere?
Wenn nicht beides, würde mir eines fehlen. Angeln ist im Vergleich aber einfacher – Schreiben ist Kopfarbeit.
Was bedeutet Ihnen der Rheingau-Literatur-Preis?
Er bedeutet mir wirklich viel und bestärkt mich, die Kontroverse nicht zu scheuen. Ich habe mich geradezu diebisch gefreut, gerade als Ostdeutscher literarisch so wahrgenommen zu werden.
Bringen Sie zur Preisverleihung Ihr Angelzeug mit?
Ja, es kommt in den Koffer.
Fotos: Franziska Hauser/Melina Wörsdorf