Warum Camus zu lesen gut gegen Heimsuchungen ist

18.03.2020 / Rita Thies


„Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen.  ….Weil die Plage das Maß des Möglichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen…..“
*(S. 27)

So beschreibt Albert Camus in „Die Pest“ das Gefühl von Menschen, die sich überraschend in einer Situation wiederfinden, die sie überwältigt, der sie nicht ausweichen können. Was macht das mit Menschen, und: Was kann der Einzelne tun?

Zu Recht wird dieser weltberühmte Roman aus dem Jahr 1947, der heute meist nur noch von Französischklassen in der Oberstufe gelesen wird, zurzeit nicht nur in Deutschland als Lesetipp gehandelt.

 Ort der Handlung ist die Stadt Oran in Algerien, damals französische Kolonie. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt in den 1940er Jahren verenden plötzlich überall Ratten in der Stadt. Der Arzt Bernard Rieux beschreibt nun als Chronist den Ablauf der Katastrophe. (Im Roman gibt er sich erst zum Ende hin als die Stimme, die erzählt, zu erkennen.) Als die ersten Anzeichen der Seuche auftauchen, glauben viele nicht an die Pest. Mit dem Ausbruch des großen Sterbens lässt die Isolierung der gesamten Stadt nicht lange auf sich warten. Im Mikrokosmos Oran beschreibt Camus nun anhand der verschiedensten Figuren alle Facetten möglichen menschlichen Handelns in der Katastrophensituation. Da sind diejenigen, die aus der Quarantäne fliehen wollen. Diejenigen, die von der apokalyptischen Situation profitieren. Und es gibt diejenigen, die gegen die Pest kämpfen, das sind Rieux und ein paar Freunde…

Recht, Unrecht, Gerechtigkeit – solche Kategorien zählen bei der Pest nicht, sie tötet einfach. Heimsuchungen sind ohne Logik, sie sind sinnlos. Die Situation ist grausam, absurd. So erlebt Rieux als Arzt die Pest als endlose Niederlage, aber – und das ist die Botschaft Camus, die von zeitloser Aktualität ist – er kämpft weiter gegen die Sinnlosigkeit. Freunde schließen sich an, gründen einen freiwilligen Sanitätsdienst, üben sich in Solidarität. Sinn und menschliche Freiheit entstehen genau in dem Moment, in dem das Handeln im Kampf gegen die Seuche über das Ich hinausgeht.

Angesichts unseres eigenen Erlebens und all der damit einhergehenden widersprüchlichen Gefühle und Verunsicherungen lässt sich „Die Pest“ so einerseits als sehr realistische Beschreibung einer sich zuspitzenden, unfassbaren Tragödie und der damit verbundenen psychopathischen Reaktionen der Bevölkerung lesen.  (Camus zitiert vorweg Daniel Defoe. Dieser veröffentlichte 1722 mit „Die Pest zu London“ seine „Chronik“, in der er das Wüten der Pest und die Auswirkungen auf die Bewohner im Jahre 1665 beschreibt.)

 

 

Zeitgenossen Camus lasen den Roman vor allem als Allegorie. Die „braune“ Pest, Nazi-Deutschland, hielt Frankreich von 1940 bis 1944 besetzt. Camus gehörte zu denjenigen, die im Widerstand gegen den Faschismus aktiv waren.

Das, was den Roman zeitlos macht, ist jedoch darüber hinaus seine oben schon erwähnte philosophische Dimension. In einer sinnlosen Situation entsteht das sinnerfüllte Leben eben darin, dass der Mensch sich widersetzt. Er übernimmt in seiner Arbeit Verantwortung, mit Mut, Verstand und Solidarität.

Es ist der eindringliche Appell an den Einzelnen, gerade angesichts des Bösen, des Absurden (denn weder tödliche Bazillen, Viren noch Kriege machen Sinn) – vernünftig und solidarisch zu handeln als Möglichkeit eines sinnerfüllten Lebens.

So schließt der Roman am Ende mit zwei Botschaften: Er warnt nach dem Ende der Pest vor der Möglichkeit, dass sie jederzeit wieder ausbrechen könne, sie sich nur verstecke. Zugleich aber lässt er den Chronisten feststellen:

„…er wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“* (S. 202)

 Auf denn!

 

*Albert Camus: Die Pest (Meine Zitate sind der Übersetzung von Guido G. Meister entnommen, hier die Sonderausgabe rororo aus dem Jahr 1987. Es gibt mittlerweile eine neuere Übersetzung von Uli Aumüller aus dem Jahr 1997.)