Wenn die Erinnerung Löcher hat

15.10.2023 / Förderverein Literaturhaus Wiesbaden, Viola Bolduan


Ohne zu überlegen, steigt Harriet in den Geländewagen, hievt die alte Frau aus der Feuergefahr hinein (der Wald brennt) und rast mit ihr zum nächsten Krankenhaus. Sie kommt heil an. Harriet aber kann überhaupt nicht Auto fahren. Wie reimt sich das zusammen?

Eines der vielen seltsamen Puzzleteilchen im Roman der Wiesbadener Krimi-Stipendiatin von 2019 Zoë Beck; aus „Memoria“ liest sie in einer Veranstaltung des Fördervereins Literaturhaus in den neuen Räumen der Wiesbaden Stiftung am Michelsberg. Premiere für das Buch und die Institution: Wenige Tage zuvor ist sie in ihr gläsernes Bürgerbüro eingezogen, seit wenigen Tagen ist es als Zoë Becks zehnter Roman im Suhrkamp-Verlag erschienen. Ans Erstere erinnert Stiftungs-Geschäftsführerin Alrun Luise Schößler nach der Begrüßung durch Lutgart Behets-Oschmann für den Vorstand des Fördervereins und Moderatorin Kim Engels erinnert ans Letztere: Zoë Becks Lesetour-Auftakt im Stiftungs-Raum. So kurz die Zeitspanne für Erinnerungen hier, so fast lebenslang  für die Hauptfigur im Buch, das „Erinnerung“ in seinem Titel trägt.

Die mehrfach ausgezeichnete Krimi-Autorin und Filmsynchronregisseurin, Übersetzerin und Verlegerin Zoë Beck hat sich intensiv mit den Mechanismen von Erinnerungen beschäftigt, wie sie im Gespräch mitteilt. Wie manipulierbar sind sie? Wie viele falsche tragen wir mit uns herum? Wie können wir unliebsame löschen? „Das macht doch kaputt.“ Während der Corona-Zeit hat die Autorin über „Depression“ („womit ich mich auskenne“) 2021 ein Sachbuch geschrieben, in diesem Jahr nun einen ,Thriller‘ („irgendwas muss ja vorne draufstehen“) über Vorkommnisse der Vergangenheit, die irritierend bruchstückhaft, aber ohne bewusste Erinnerung aufleuchten. Eine Klavierausbildung verbindet die Autorin mit ihrer Hauptfigur Harriet. Zoë Beck gab die Pianistinnen-Karriere auf, weil sie das gewünschte Glamour-Frauenbild in der klassischen Musikbranche ablehnte – für Harriet reicht es gerade noch zum Nebenberuf einer Klavierbauer- und stimmerin. Und also liest die Autorin auch die „Opern-Ouvertüre“, wie Moderatorin Kim Engels das erste „Memoria“-Kapitel nennt.

Ein Zug hält, der Wald brennt, ein Haus ist in Gefahr, seine Bewohnerin auch, Harriet rettet … „„wie hast du mich gefunden? Du darfst gar nicht hier sein“, sagt die alte Frau. Kennen sich die beiden? Woher und warum? Harriet weiß es noch ebenso wenig, wie sie in der Situation den rettenden Wagen fahren konnte. Wenn der Vater sich nicht mehr erinnert, dann liegt es an dessen Demenz. Harriet, die in einem entvölkerten Banktower in Frankfurt wohnt, besucht ihn in München, wo er die Tochter nicht mehr erkennt. Als aber ein anderer Mann sie an der Isar erkennt, flippt sie aus und schlägt ihn nieder.

Sie erinnert sich: Hatte sie früher hier etwas Schlimmes verbrochen? Dem will sie auf den Grund gehen. Ihre Aufklärung gelingt – „fast“, sagt die Autorin. Und auch fast nur sind die beiden am Podium zu Ende. „Noch eine Kostprobe“ erbittet sich die Moderatorin, und Zoë Beck liest dann eben noch den Ausschnitt, als Harriet als Klavierstimmerin ins Haus einer wohlhabenden Familie kommt, die Tochter aber gar nicht, wie der Vater wollte, Klavierspielen lernen will. Dann wird das Buch zugeklappt.

Fotos: Lutgart Behets-Oschmann