„Wenn ich nicht schreibe, bin ich tot“

01.12.2020 / Viola Bolduan


Vor 100 Jahren, am 10. Dezember, ist sie in der sowjetischen Ukraine geboren worden, gestorben am 9. Dezember 1977 in Rio de Janiero, Brasilien. Einen Tag später hätte Clarice Lispector ihren 57. Geburtstag gefeiert – wäre die Krebserkrankung nicht so überraschend mit schnellem Ende über sie gekommen. Clarice Lispector könnte den bizarren Zeitpunkt ihres Todes als verdient betrachtet haben – hatte sie Zeit ihres Lebens doch Schuldgefühle, überhaupt geboren worden zu sein. Nicht nur, dass die jüdischen Eltern aus ihrem von Tumulten und Pogromen heimgesuchten Land kurz nach Chayas (erst später nannte sie sich – nicht gerade unglamourös – Clarice) Geburt zunächst nach Europa, dann nach Brasilien flohen – die Mutter war von russischen Soldaten vergewaltigt worden, wobei sie sich mit der Syphilis ansteckte und an der Krankheit schmerzvoll bis zur Lähmung laborierte. Clarice, die jüngste Tochter, macht sich – widerspiegelnd in ihren Texten – Vorwürfe, der Mutter nicht helfen zu können. Die Bindung muss eng, quälend bis zur Depression gewesen sein.

In der äußeren Welt wiederum sollte Clarice Lispector schon als junge Frau zum geheimnisvoll strahlenden, gleichwohl kühlen Stern am Literaturhimmel Brasiliens aufsteigen. Sie war die Erste der Familie, die die portugiesische Sprache lernte und darüber hinaus lernte, sie professionell (als Journalistin) und spielend künstlerisch (als Erzählerin) zu beherrschen. „Wenn ich nicht schreibe, bin ich tot“, sagt sie in einem Interview. Als Kind schon habe sie begonnen, sich Geschichten auszudenken, chaotische, intensive …

Clarice Lispector wird bekannt mit ihrem ersten Roman „Nahe dem wilden Herzen“, der 1943 erscheint, im Jahr ihrer Heirat mit dem brasilianischen Diplomaten Maury Gurgel Valente. Mit ihm reist sie in andere Länder, nach Europa und Amerika, wird Mutter zweier Söhne und lebt nach ihrer Scheidung mit den Kindern in Rio de Janeiro. Sie arbeitet als Journalistin, übersetzt, schreibt Kurzgeschichten, Drehbücher, weitere Romane.

Ihr Erstlingswerk „Nahe dem wilden Herzen“ hatte in die literarische Welt eingeschlagen, weil es der Stimme einer kompromisslosen Frau gehört, die von sich selbst erzählt und Regeln ihrer konventionellen Umwelt in Frage stellt. Die feminine Art eines brasilianischen „stream of consciousness“, der sich u.a. orientiert an Virigina Woolf, gegen festgezurrte Geschlechterrollen aufbegehrt, lässt eine auch teilweise verstörende Leidenschaftlichkeit aufbrechen. Irritierend seziert die Autorin weibliche Psychen und gilt damit als literarische Pionierin des Feminismus. Die Freiheit, in die hinter bürgerlichem Alltag aufgebrochen wird, ist freilich immer auch fremd, zwiespältig und gefährdend und dies in Texten von gleichwohl soghafter Anziehungskraft.

Benjamin Moser, der Amerikaner in den Niederlanden, ist als Herausgeber ihrer Werke in neuer Übersetzung in den USA, ein profunder Kenner. Seine Biografie „Clarice Lispector“ (568 Seiten, 10 €) ist ebenfalls im Verlag Frankfurter Schöffling & Co erschienen, der drei Clarice-Lispector-Werke, „Der große Augenblick“, „Der Lüster“ und den Roman „Nahe dem wilden Herzen“ neu herausgebracht hat. Begleitend zitiert der Verlag den türkischen Literatur-Nobel-Preisträger Orhan Pamuk: „Clarice Lispector war eine der geheimnisvollsten, schillerndsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts“.

Das Urteil gilt nicht nur ihrem Schreiben – Clarice Lispector war schon eine seltene Schönheit; mit ihrem hellen Teint, schräg stehenden Augen und hohen Wangenknochen wirkte sie exotisch anziehend, galt gleichzeitig als verschlossen und unnahbar. Mit ihrem Geburtsjahr nahm sie es nicht allzu genau, und angesprochen darauf, dass ihre Texte „hermetisch“ (also schwer zugänglich) seien, gab sie zur Antwort, sie selbst verstehe sie schon … (bis auf einen: „Die Henne und das Ei“, Erzählung im Band Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“). Obwohl sie das große Lob und die scheue Verehrung vieler wohl auch genoss – Clarice Lispector schrieb für sich selbst – und zwar so, „als gälte es, jemanden das Leben zu retten. Wahrscheinlich mir selbst“.