Skeptisch hätte er, zugeneigt dem Bauhaus-Stil, die neobarocke Ausstattung des Roten Salons im Wiesbadener Literaturhaus betrachtet, fragwürdiger noch wäre ihm das große Interesse an seinem Leben vorgekommen, das aus vollbesetzten Stuhl-Reihen sprach. Da war es gut, dass der Förderverein Literaturhaus einen Autor als Brückenbauer zwischen Ludwig Wittgenstein, dem Architekten in Wien, Dorfschullehrer, Medikamentenboten und Professor der Philosophie in Cambridge eingeladen hatte, ihn als eigenwillige und menschenscheue, gleichzeitig sympathische und spannende Person vorzustellen. Markus Seidel lässt in seinem Roman „Die letzten Tage vor dem Schweigen“ Ludwig Wittgensteins letzte Lebenswoche im Haus von dessen Arzt Edward Bevan Revue passieren (vom 23. bis 29. April 1951) und liest nach der Begrüßung durch Vereinsvorsitzende Rita Thies daraus im Literaturhaus gemeinsam mit Schauspielerin und Kabarettistin Katalyn Hühnerfeld. Er schnell, sie rhythmisch. Sie bringen Erzählprosa und Dialoge mit verteilten Rollen in fliegendem Wechsel.
Ludwig Wittgenstein geht mit Mrs. Bevan ins Pub, geht mit dem 17-jährigen Nachbarjungen ins Kino und arbeitet am letzten Werk „Über Gewißheit“. Während dieser Alltagsbeschäftigungen lässt Markus Seidel seine Figur auf entscheidende Moment seines Lebens zurückblicken. So kündigt der Autor es in der Kurzvorstellung der biografischen Stationen an und liest daraufhin die entsprechenden Passagen über Wittgensteins pädagogischen Jähzorn, seinen Hang zum Perfektionismus und das Bedauern, dass sein Denken nicht verstanden werde. „Da hat er recht gehabt“, meint Markus Seidel, der selbst zumindest „nach und nach 70 Prozent“ davon begriffen hat, was der Philosoph hatte sagen wollen (im Erstling „Tractatus Logico-Philosophicus“, 1921; Spätwerk: „Philosophische Untersuchungen“, 1953).
Sein Buch von 185 kleineren Seiten (Verlag Omnino) befasst sich aber nicht mit Wittgensteins Denkmodellen, sondern will dessen Persönlichkeitsstruktur nachzeichnen. „Ein einsamer Typ“, dieser jüngste Knabe von neun Kindern aus schwerreicher österreichischer Industriellen-Familie, der sein Millionenerbe später weggeben wird, um sich in der Praxis selbst zu erproben, ein „leidenschaftlicher Mensch“, der alles perfekt beherrschen will, kompromisslos anstrengend für seine Umwelt, oder auch, wie Markus Seidel sagt: „ein origineller und originärer Mensch“. In seinem Buch stellt er diesem empfindlichen Genie die mitfühlende, lebenskluge und klavierspielende Arztfrau Mrs. Bevan an die Seite, die den kranken Mann begleitet. Der 17-jährige Nachbarjunge taucht in der Lesung nicht auf, ist aber für den homosexuellen Professor die tröstliche Augenweide seiner letzten Tage.
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – Wittgensteins einziger Satz im letzten Abschnitt seines „Tractatus“ hat Autor Markus Seidel mit seinem Roman – wie schön – nicht befolgt, sondern nach Robert Seethalers Muster eines Gustav-Mahler-Künstlerromans in „Der letzte Satz“ (2020) seine Wittgenstein-Prosa innerhalb von zwei Monaten sehr schnell geschrieben. Entstanden ist als „Mischung aus Fakt und Fiktion“ das Porträt eines schrillen Charakters, der seinen Ruf als depressiver Exzentriker sehr wohl zu bedienen wusste und am Ende seines Lebens als Botschaft an seine Freunde hatte weitergeben können: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wunderbares Leben gehabt habe.“ In Seidels Roman flüstert er den Satz in Mrs. Bevans Ohr – berührend genug, dass viele aus dem Publikum ihn nachlesen wollen, indem sie das Buch erwerben.