Wolf von Lojewskis „Verstreute Blätter“

10.10.2020 / Viola Bolduan


Ansicht von Rom aus der „Schedelschen Weltchronik“
Abbildung: „Das Jüngste Gericht“ aus der „Schedelschen Weltchronik“
© ASKU Sven Uftring e.K. 2020

Wolf von Lojewski war jahrzehntelang süchtig. Nach ganz speziellen Buchseiten, den einzelnen Blättern der einst 326 Seiten umfassenden „Schedelschen Weltchronik“, einer Art Wikipedia, einer Enzyklopädie des späten Mittelalters. Bei einem Antiquar in London war der bekannte Journalist in den Sog der Bibliophilie geraten, der ihn nicht mehr losließ, bis er von überall her endlich alle Blätter zusammengesucht hatte. Wolf von Lojewski dokumentiert die Geschichte der „Schedelschen Weltchronik“ und die eigene Sammelleidenschaft in der Dokumentation „Verstreute Blätter“. Zur digitalen Buchmesse wird sie als besondere Print-Ausgabe vom Verlag ASKU-Presse herausgegeben, der spezialisiert ist auf grafisch und satztechnisch feine Editionen. Im Interview spricht Wolf von Lojewski über seine Sucht, die Bedeutung der „Schedelschen Weltchronik“ und die eigene Publikation.

Herr von Lojewski, Sie sind einer seltenen, langanhaltenden Droge verfallen – der des Sammelns von Blättern aus dem spätmittelalterlichen Schmöker der „Schedelschen Weltchronik“. Wie haben Sie sich diese Sucht geholt?

Die Blätter haben mich einfach magisch angezogen. Ein ganzer Stapel davon lag wild durcheinander auf dem Tisch eines Londoner Antiquars. Sehr preiswert übrigens, später habe ich mir Vorwürfe gemacht, sie nicht gleich alle mitgenommen zu haben. Es war einfach das Gefühl, mit diesen großen, noch ganz  mittelalterlich bebilderten Bogen die Zeit in Händen zu halten. Was das für ein Buch gewesen sein könnte, aus dem man sie herausgerissen hatte, hat mich erst später interessiert.

Zu welchem Ergebnis hat die Sammel-Leidenschaft geführt?

Ich weiß es nicht. Manchmal, wenn ich mich an freien Wochenenden mit dem Nürnberger Arzt Hartmann Schedel befasste, kam er mir vor wie ein Kollege. Nicht nur als Sammler, sondern auch als Journalist. Er hatte eine große Bibliothek geerbt und geradezu fanatisch alles Gedruckte und Geschriebene hinzugekauft, um Ordnung in ein gewaltiges Thema zu bringen: Die Welt – einfach alles, was man von ihr von ihr wusste, glaubte oder auch nur vermutete. Heute wissen wir mehr über uns und unseren Planeten. Und dennoch gehen wir ziemlich sorglos mit ihm um.

Haben Sie denn den Text aller 326 Blätter gelesen und alle Illustrationen entschlüsseln können?

Also in der Schule gehörte Latein nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern. Aber es macht schon einen Unterschied, ob man etwas lesen muss, oder ob man es lesen will. Mein Lexikon hatte ich glücklicherweise nicht entsorgt.

Wie viel Wissenschaftliches aus mittelalterlicher Zeit haben Sie entdeckt?  

Schedel war sicher als Arzt ein Wissenschaftler, als Historiker war er es nicht. Er trug einfach alles zusammen, was in seinen Büchern stand. Manchmal in einer Reihenfolge, die wir heute nicht nachvollziehen können. So ordnet er zum Beispiel die Gründung von Mainz und Trier weit früher ein als die Gründung Roms. Wiesbaden ist leider gar nicht erwähnt, Berlin übrigens auch nicht.

Welcher war im Laufe Ihrer 40-jährigen Suche der aufregendste Fund?

Wenn man sich ein wenig in der Bibel auskennt und auch im Geschichtsunterricht gelegentlich aufgepasst hat, kommt einem ja vieles bekannt vor. Das verführt dazu, das eine oder andere Kapitel nur quer zu lesen. Das Buch ist ja eine Art Universallexikon, und auch heute würden sich nur wenige daran machen, zwei oder drei dicke Brockhaus-Bände von A bis Z durchzulesen. Wenn aber zum Beispiel in einer chronischen Abfolge der Päpste plötzlich der Holzschnitt einer Frau mit päpstlicher Krone und einem Baby auf dem Arm auftaucht, dann liest man geradezu atemlos Wort für Wort. Heute brauchen Autoren nicht viel Mut, um die Geschichte oder Legende von der Päpstin Johanna zu verfilmen oder zu erzählen, aber damals hielt die Kirche alles Gedruckte fest im Griff.  Sie war eine Macht, die hart zuschlagen konnte, wenn sich jemand mit einem Thema befasste, das ihr nicht gefiel.

Sie sprechen von der „Schedelschen Weltchronik“ auch von einem Modemagazin des Spätmittelalters – worauf beziehen Sie das?  

Auf die annähernd 2.000 Holzschnitte der Chronik. In jenen Tagen waren italienische und niederländische Buchmaler schon viel moderner nach heutigem Kunstverständnis, sie bemühten sich schon um die Perspektive und um die Details einzelner Städte und Personen. Die großen, vor allem die doppelseitigen Stadtansichten in der Chronik tun das auch. Doch bei der Vielzahl der Landschaften und Städte, die man für weniger bedeutend hielt, konnte fünf- oder sechsmal dasselbe Motiv auftauchen. Mal stellte es Verona, mal Siena, mal Mazedonien, Kärnten, Spanien oder Hessen dar. Über die Abbildung biblischer Gestalten oder weltlicher Helden haben oft die Setzer entschieden und sie manchmal von Exemplar zu Exemplar willkürlich untereinander ausgetauscht.

Sie wollen die „Verstreuten Blätter“ zu Beginn der Frankfurter Buchmesse unter der Sektion „Rare Books & Fine Arts“ präsentieren. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Die Idee kam vom Veranstalter der nunmehr rein digitalen Antiquariatsmesse. Man kannte mich in Händler- und Sammlerkreisen wie einen „bunten Hund“, und als ich einen Anruf bekam: “Wie viele Blätter haben Sie denn schon?“ und meine Antwort war: „Alle!“, machte mir der Veranstalter das Angebot, das Protokoll meines verrückten Sammelabenteuers  vom Kunstbuch-Verlag „asku-presse“ herausgeben zu lassen. Sozusagen als bunten Tupfer und Hochglanz-Produkt einer Messe, die anders ist als alle davor.

Warum kann Print auch in der jetzigen Zeit noch immer begeistern?  

Das kommt auf den Einzelnen an. Die einen schauen nur noch auf ihr Smartphone, auch ich surfe ja im Netz. Aber morgens beim Frühstück will ich kein Blitzen und Blinken, keine Updates und keine preiswerten Angebote. Ich will die Zeitung in Händen haben. Da lese ich in größerer Ruhe die Zusammenfassung und alle Hintergründe des aktuellen Geschehens. Das war auch in der hektischen Zeit beim „heute journal“ so, und so gehe ich auch abends mit dem Buch ins Bett. Wissen Sie, vor Jahrzehnten haben einige Mahner geglaubt, das Fernsehen werde der Tod des Kinos sein, und jetzt glauben viele, die Zukunft sei nur noch digital. Ich glaube das nicht.

Für wen, meinen Sie, kann diese spätmittelalterliche Darstellung des damals bekannten Weltwissens heute noch von Interesse sein?

Vor allem für mich. Und vom Verlag höre ich, dass es schon vor dem Beginn der Messe 150 andere gibt, die das auch interessiert.

Wenn Sie heute auf 40 Jahre Suchen und Finden aller Blätter der „Schedelschen Weltchronik“ von 1493 zurückblicken – würden Sie noch einmal, wie damals, von vorn anfangen?

Nein.

Foto/Abbildungen: ©ASKU Sven Uftring e.K. 2020