Für das kommende Literaturforum habe ich zwei Autor*innen ausgewählt, die sich sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland gut auskennen.
– Natalka Sniadanko: „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“, Haymon-Verlag, Innsbruck-Wien 2016 (Original 2013)
– Dmitrij Kapitelman: „Eine Formalie in Kiew“, Hanser Berlin, 2021
Dmitrij Kapitelmans Erzählung „Eine Formalie in Kiew“, die 2021 vor dem großen Angriffskrieg auf die Ukraine erschienen ist, trägt starke autobiographische Züge des Autors, deshalb vorweg ein paar Informationen zur Person.
Kapitelman wird 1986 in Kiew in der Ukraine geboren und kommt 1994 im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er studiert in Leipzig und in München und arbeitet als freier Journalist, Autor und Musiker.
In der Erzählung entschließt sich sein Alter Ego Dima nach 25 Jahren in Deutschland, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Das ist im Leipziger Rathaus jedoch nicht ganz so einfach wie vorgestellt. Er muss nach Kiew, um sich bei den dortigen Behörden eine Apostille zu besorgen, die seine Geburt in der ukrainischen Hauptstadt noch einmal bestätigt. Ganz im Gegensatz zu seinen Eltern, die im Laufe der Jahre immer mehr ihrem verlorenen Lebensglück nachtrauern, ist ihm sein Geburtsland fremd. Er erwartet Korruption und Bestechung überall und wird doch ab und an überrascht. Zudem muss er die Erfahrung machen, dass er nicht nur mit Aussagen wie „das verstehst du als Deutscher nicht“ konfrontiert wird, sondern mit dem Sowjetrussisch, das er mit dem seinen Eltern gesprochen hat, als Fremder auffällt. Ukrainisch spricht er nicht.
Sein Aufenthalt in Kiew dauert länger als geplant. Dies ist nicht der Bürokratie geschuldet – sein Problem mit der Apostille löst sich dann doch schnell auf – vielmehr der Anreise seines Vaters, der sich in der Ukraine ein neues Gebiss besorgen möchte. Ein Vater, ehemals derjenige, der mit guter Laune und Witz die Familie zusammenhielt, nun aber ein wenig verwirrt ist. So wird nach und nach das gesamte Drama um die Veränderungen, die das Exil für die Familie mit sich gebracht hat, sichtbar: Eine ehemals als liebevoll wahrgenommene Mutter, die sich nur noch um ihre Katzen kümmert. Die russische Enklave, die sie sich, so Dima, damit gebaut habe: Katzastan. – Als die Mutter auf Drängen von Dima dann doch auch anreist, findet die Familie in all ihrer Verlorenheit zwischen den Welten doch wieder einen Weg zueinander…
All das erzählt Kapitelman mit einem äußerst sensiblen und den Menschen zugewandten Humor. Seine vielen Wortneuschöpfungen (Katzastan, Entdankung = Bestechungsgeld) sind überaus treffend und machen das Lesen zu einer äußerst unterhaltsamen Angelegenheit. Bei all dem kommt der Blick auf die Ukraine nicht zu kurz.
Natalka Sniadanko, 1973 im ukrainischen Lemberg (L’viv) geboren, hat bis vor Kurzem mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach einer Studienzeit in Freiburg im Breisgau wieder in ihrer Geburtsstadt gelebt und als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin gearbeitet. Nach dem brutalen Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ist sie mit ihren Kindern nach Deutschland geflohen.
„Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“ ist in der Ukraine schon 2013 erschienen. D.h., dass der Roman zeitlich vor dem Euromaidan angesiedelt ist. –
Chrystyna und Solomija, beide in den Dreißigern, leben in Lemberg. Als Chrystynas Musikschule, in der sie unterrichtet, geschlossen wird, lässt sie sich von ihrer Freundin überreden, die Ukraine zu verlassen. Ihr Ziel ist Athen, doch sie stranden beide – Solomija, weil sie erst keine Schengen-Visum erhält, erst später – in Berlin. Die ehemalige Musiklehrerin Chystyna arbeitet dort als illegale Putzhilfe in verschiedenen Haushalten, lebt mit einer Frau, Eva, zusammen und liest eines morgens in der Zeitung, dass Solomija sich und eine von ihr gepflegte Frau umgebracht habe… So die Rahmenhandlung. Thematisch lotet Sniadanko dabei das Lebensgefühl, die Aufbruchstimmung, die Ungewissheiten von Frauen aus einem Land aus, die in der postsowjetischen Zeit ihre europäische Identität finden möchten. Sie taucht dazu tief in die Figuren ein, erzählt eine Menge wunderbar wilder Geschichten, beherrscht aber auch die leisen Töne. Dass Transformation auch Selbstzweifel auslöst – auch das ist ein Thema in diesem Roman. Eine Binnenerzählung in diesem Roman, die Lebensgeschichte der 92jährigen Hanna Kopyryz, mag gern mehrfach gelesen werden, denn in ihren Erinnerungen wird die wechselhafte und z.T. blutige Geschichte der Westukraine sehr anschaulich.
Rita Thies
Hinweis: Bitte melden Sie sich rechtzeitig vorher an, denn die Anzahl der Plätze im Literaturhauscafé ist aufgrund der Pandemie weiterhin reduziert. Anmeldung ab dem 13.4. unter literaturforum.wiesbaden@online.de