Literaturforum am 8. Oktober 2019

Zora del Buono: Gotthard / Gilles Marchand: Ein Mund ohne Mensch


Zora del Buono ist gebürtige Schweizerin und lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin. In der 2015 erschienenen Novelle „Gotthard“ kehrt die gelernte Architektin und Bauleiterin erzählerisch in die schweizerische Bergwelt zurück und widmet sich den Menschen, die sich rund um die zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellte Riesenbaustelle einfinden. Das sind Bauarbeiter und Lokführer im Berg, ein passionierter Eisenbahnfan, von Beruf Buchhalter, eine Kantinenwirtin, eine LKW-Fahrerin, eine Prostituierte sowie ein Rentner, der die Haushaltskasse mit Drogenhandel aufbessert.

Während die Tunnelbohrmaschine den Weg durch das Felsmassiv treibt, gräbt sich del Buono durch die Tiefen menschlicher Gefühlswelten und die Untiefen menschlichen Handelns, stößt nebenbei auf Betrug und Mord. Genau einen Vormittag lang dauert dies, von 6.00 Uhr bis 12.23 Uhr begleitet die Autorin die Figuren in immer kürzeren Abständen an verschiedene Orte. Überraschendes geschieht den Beteiligten in diesen Stunden, ob im Tunnel oder außerhalb des Berges. Bevor der Eisenbahnfan Fritz Bergundthal, der als Einziger vor Ort nicht dazugehört, wieder nach Berlin zurückreisen kann, begegnet auch ihm Unerhörtes, schier Groteskes …

„Ich habe ein Gedicht und eine Narbe.“ – Dieser Satz ist dem Anfang des Romans „Ein Mund ohne Mensch“ von Gilles Marchand vorangestellt. Paris, 1988: Der namenlose Ich-Erzähler trägt Schals, um den unteren Teil seines Gesichtes zu verbergen, denn eine Narbe entstellt ihn. Mitte Vierzig, von Beruf Buchhalter, ist er ein sehr einsamer Mensch ohne Familie. Seine einzigen Freunde trifft er seit Jahren in einem Café: Lisa, die hinter dem Tresen steht, Thomas und Sam. Sie kommen fast täglich zusammen, rauchen, erzählen Unverbindliches, hören Musik und spielen Karten.

Durch einen Zufall lässt der Ich-Erzähler sich nach und nach auf etwas mehr Nähe ein und beginnt Geschichten über und von seinem Großvater Pierre-Jean zu erzählen. „Die Wirklichkeit ist ein wenig überschätzt“, so eine seiner Lebensweisheiten, die er gegenüber seinem Enkel postuliert hat. Und so erzählt Letzterer einem immer größer werdenden Publikum im Café die wunderbaren, fantastischen Geschichten, die ihm sein Großvater hinterlassen hat. Dabei ändert sich auch sein Blick auf die Wirklichkeit, die ihn umgibt, die Beschreibungen von alltäglichen Lebenssituationen nehmen groteske, teils kafkaeske Züge an.

Die Wirklichkeit ins Wanken bringen, um sie erträglich zu machen – angesichts der Realität, die hinter der Narbe steht, ist dies der Weg zu überleben. Der namenlose Ich-Erzähler schafft es auf diese Weise schließlich, seinen drei Freunden die unglaublichen Gräueltaten zu offenbaren, die er als Kind von Seiten der Deutschen im Krieg erlebt hat …

Rita Thies


PS: Ausnahmsweise an dieser Stelle: Völlig unverständlich ist mir, warum das deutsche Feuilleton diesen gleichermaßen bewegenden, erschütternden, aber auch humorvollen und dem Leben zugewandten Roman kaum wahrgenommen hat. Für mich gehört er zu den Büchern, die unbedingt auf Leselisten gehören.