Literaturforum am 10. Dezember 2019

Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte / Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene


Erste Sätze sind es zumeist, die darüber entscheiden, ob wir uns auf eine Geschichte einlassen – in Celeste Ngs Debütroman „Was ich euch nicht erzählte“ funktioniert das wie folgt:

„Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 3. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück.“ – „Sie“, das sind die weiteren Familienmitglieder: Lydias Vater James Lee, Collegeprofessor, gebürtiger Amerikaner chinesischer Abstammung. Ihre Mutter Marilyn, eine Amerikanerin, die ihren Mann trotz gesellschaftlicher und privater Widerstände geheiratet hat. Der ältere Bruder Nath, der zum Studium fort will, und die jüngere Schwester Hannah.

Nachdem die örtliche Polizei des kleinen Städtchens Middlewood in Ohio die Leiche der Verschwundenen im nahe gelegenen See findet, suchen die einzelnen Familienmitglieder nach Erklärungen für Lydias Tod. Nath hat schon bald den Nachbarjungen Jack als Täter ausfindig gemacht, die Polizei hingegen vermutet Selbstmord.

Fakt ist, dass mit der Sechzehnjährigen das Lieblingskind der Eltern verschwunden ist. Lydia, die die unerfüllten Lebensträume sowohl der Mutter als auch des Vaters erfüllen sollte. Dazuzugehören als Amerikaner, trotz seines asiatischen Aussehens, das ist es, wofür Vater James kämpft. Mutter Marilyn träumt davon, dass zumindest die Tochter die akademische Ausbildung mit Erfolg absolvieren wird, die sie selbst wegen der Kinder aufgegeben hat.

Stoff genug für einen Roman, in dem Ng durch die Gestaltung der Charaktere und die unterschiedlichen Perspektiven beim Erzählen eine Familienaufstellung entwirft, deren Anordnung Explosionskraft in sich trägt.

Hans-Ulrich Treichels Novelle „Der Verlorene“ ist im Westdeutschland der späten Nachkriegszeit verortet, in der letzten Hälfte der fünfziger und ersten der sechziger Jahre. Der namenlose, heranwachsende Ich-Erzähler erlebt seine Kindheit als eine der „Schuld und Scham“. Familienmittelpunkt ist nicht er, sondern Arnold, der abwesende ältere Bruder, der als Baby auf der Flucht von Ostpreußen nach Westen verlorengegangen ist. Derweil sein Vater unentwegt arbeitet, um zu vergessen, wird die Suche nach dem verlorenen Sohn zum einzigen Lebensinhalt der Mutter.

So überrascht nicht, dass der sich nach Aufmerksamkeit und Geborgenheit der Eltern sehnende Ich-Erzähler in stiller Verzweiflung Überlegungen anstellt, wie das Auffinden des unbekannten Bruders verhindert werden könnte. Doch schließlich wird das Findelkind 2307 als möglicher Arnold ausgeguckt, ein erbbiologisches Abstammungsgutachten, an dem der Erzähler mitwirken muss, wird erstellt…

Die spürbare Beklemmung, die der Freudlosigkeit und Sprachlosigkeit in der Familie geschuldet ist, wird durch die kindliche Erzählposition jedoch durchgehend ironisch gebrochen. Beispielsweise liest sich die Reaktion des Vaters auf die Reisekrankheit des Jungen beim Autofahren so: „Der Vater hatte für meine körperlichen Reaktionen kein Verständnis, er empfand sie als Angriff auf seine Person und als Undankbarkeit. Schließlich hatte er hart gearbeitet und für Wohlstand gesorgt, und zum Dank erbrach ich mich.“

Eine Übelkeit, mit der eine ganze Generation gekämpft hat …

 

Rita Thies