Aus organisatorischen Gründen beträgt der Abstand des Mai-Forums zum letzten nur vierzehn Tage, deshalb wird diesmal nur ein Titel aufgerufen.
Als die sechsjährige Kimmy Diore im November 2019 beim Versteckspiel plötzlich verschwindet und nicht wieder auftaucht, erhält die junge Polizeibeamtin Clara Roussel bei ihren Ermittlungen Einblicke in ein bizarres Paralleluniversum: Kimmys Familie betreibt den YouTube-Kanal „Happy Récré“, in dem sie banale Alltagssituationen im Internet „teilt“. Das inszenierte perfekte Familienleben wird von 5 Millionen Abonnenten verfolgt und bringt reichlich Werbeverträge.
Die treibende Kraft hinter diesem Projekt ist Kimmys Mutter, Mélanie Diore, die schon in Jugendjahren vom Glanz und der Anerkennung durch öffentliche Berühmtheit träumt. So stillt die virtuelle Welt der Sozialen Medien mit ihren Likes und der wachsenden Fan-Gemeinde ihr Verlangen nach Ruhm und Zuwendung. Ihr Mann Bruno hat mittlerweile seinen Job aufgegeben und widmet sich den täglichen Videoaufnahmen, denn das Werbegeschäft ist überaus einträglich. So sind es Kimmy und ihr zwei Jahre älterer Bruder Sammy von klein an gewohnt, gefilmt zu werden und sich an die anonyme Gemeinde der Follower zu wenden. Dies würden sie lieben, so ihre Mutter.
Je mehr Videos der Familie sich Kriminalpolizistin Clara anschaut, um so deutlich wird, dass dieses öffentlich zur Schau gestellte Leben, das hauptsächlich aus dauerndem Konsum von irgendwelchen Produkten besteht und dabei weder Intimität noch Rückzug der Kinder zulässt, bei Kimmy auf immer mehr Widerstand gestoßen ist…
Wie sich der Kriminalfall um das Mädchen auflöst, sei hier nicht verraten – nur so viel: die Autorin wagt einen Blick ins Jahr 2031 und schaut, welche psychischen Folgen diese virtuelle Daueröffentlichkeit bei Sammy auslöst. Und auch Mélanie wird überrascht…
Delphine de Vigan beschreibt in ihrem Roman sehr ausführlich die Spielarten des zur Schau gestellten Narzissmus in der Virtual Reality und die Formate, die Millionen schauen und mit denen einige auf Kosten der Kinder Millionen verdienen: „Unboxing“-Videos, Konsum-„Challenges“ etc. So überrascht, wie im Roman die Ermittlerin Clara ob all der Auswüchse und des Erfolgs dieses Familienblogs ist, wird sicher auch die eine oder der andere Leser*in sein. Vigan leuchtet zudem sehr exakt eine Form des emotionalen Missbrauchs von Kindern aus, denen erzählt wird, die hohe Anzahl von Likes gebe Auskunft darüber, wie sehr sie geliebt würden. Ein gesellschaftspolitisch wichtiger und diskussionswürdiger Roman, bei dem ich mir gewünscht hätte, dass einige Redundanzen vom Lektorat aufgespürt worden wären – ich bin gespannt auf Ihre Leseeindrücke.
Rita Thies
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