T. C. Boyle: „Blue Skies“
Severine Naeve in NDR Kultur am 20.6.2023:
- „Blue Skies“: T.C. Boyles unterhaltsames Weltuntergangsszenario
- Unfassbar komisch beschreibt T.C. Boyle, wie seine Figuren in unserer Gegenwart um ihre Leben und ums Überleben kämpfen – und sich an den Gedanken des Weltuntergangs gewöhnen müssen. Das Lachen bleibt einem dabei gelegentlich im Halse stecken.
Andreas Platthaus am 20.05.2023 in der FAZ:
- Das liegt daran, dass seine Leser seit mehr als vierzig Jahren wissen, was sie an dem 1948 geborenen Schriftsteller haben: den großen Erzähler der Zivilisationsskepsis. Oder besser und konkreter gesagt: des Umschlags desAmerican dream in einen amerikanischen Albtraum.
- Trotzdem wird „Blue Skies“ das große Publikum von T. C. Boyle erfreuen, denn der Roman bietet über die jeweils ungeplante Rache der Natur und die Hybris der Menschen die Kernbotschaft dieses Schriftstellers in nochmals konzentrierter Form – als Essenz eines engagierten Erzählers, der deshalb in seiner sorglos-selbstverliebten amerikanischen Heimat weitaus weniger geschätzt wird als in Deutschland. Und in seinen Spott mischt sich diesmal mehr als jemals zuvor Verzweiflung, und zwar über das Versagen des einzigen Antidots gegen die Weltvergiftung, an das Boyles Figuren stets geglaubt haben: die Liebe.
Jutta Duhm-Heitzmann am 5.6.2021 in WDR Kultur:
- Die Apokalypse, now? T.C. Boyle ist zwar illusionslos pessimistisch – doch ein zu guter Autor, um jetzt in langweilig-moralinsaurer Anklage zu versinken. Im Gegenteil: “Blue Skies“ ist gnadenlos bissig, sicher, doch auch ungeheuer komisch, und fast liebevoll beobachtet der Autor seine Protagonisten in ihrer hilflosen, immer scheiternden Gutwilligkeit. Zum Schluss kokettiert er sogar mit einer Art Optimismus: ein tollkühner Milliardär schießt Chemikalien in die Atmosphäre und die Temperaturen sinken.
Arno Frank am 12.5.2021 in Der Spiegel:
- Deshalb ist dieses Buch kein Ökothriller im klassischen Sinne, weder Krimi um dunkle Machenschaften noch große Oper wie »Der Schwarm« von Frank Schätzing. Es steht am Ende einer Entwicklung, die mit »Moby-Dick« (1851) von Herman Melville begonnen hat. Bei Melville war der Wal noch Metapher, der Raubbau an der Natur eine Ahnung. Bei Boyle ist alles Tatsache und Gewissheit. Daraus bezieht »Blue Skies« seine Spannung. Und eine Dringlichkeit, die Boyle auch in den Aktionen der »Letzten Generation« erkennt.
Eberhard Falcke in SWR Kultur, Buchkritik am 14.5.2023:
- Am Anfang steht die Schlange als Verführerin. Cat ist fasziniert von dem Muster ihrer Haut, das sie an Schmuck erinnert. Kurz entschlossen kauft sie eine Tigerpython, weil sie es als Influencerin für chic und cool hält, sich damit ihrem Online-Publikum zu präsentieren. … So beginnt T.C. Boyles neuer Roman „Blue Skies“. Zwar spricht der Autor nicht ausdrücklich vom Sündenfall, doch die Anspielung ist unverkennbar. In diesem Fall handelt es sich um die Versündigung des Menschen an der Natur. Und tatsächlich wird Cat, genauso wie alle anderen Figuren des Romans, aus den alten Paradiesen ihrer Gewohnheiten in eine von Naturkatastrophen erschütterte Welt vertrieben.
- Im Dezember 2017 entgingen T.C. Boyle und seine Frau im kalifornischen Montecito nur knapp der Zerstörung ihres von dem Architektur-Visionär Frank Lloyd Wright entworfenen Hauses durch Feuer und Schlammlawinen. Das mag den Schriftsteller dazu motiviert haben, seinen Romanen mit ökologischen Themen einen weiteren hinzuzufügen. Nun hat sich der brillante Chronist gegenwärtiger und vergangener Lebensverhältnisse ganz auf die Frage konzentriert: Wie leben die Menschen jetzt, da der Ernstfall an vielen Orten zum Alltag geworden ist?
- Das Ensemble der Romanfiguren bietet interessante Kontraste. Cat und ihr Ehemann Todd, ein Werbe-Botschafter für Bacardi-Rum, gehören zur amerikanischen Lifestyle-Szene, die beim Cocktail ihre Sinndefizite begrübelt. Cats Eltern dagegen gehören zur Betroffenheits-Fraktion der Babyboomer und ihr Bruder Cooper steht den Klima-Aktivisten nahe. Boyle nimmt sie alle ernst und porträtiert sie als typische Zeitgenossen mit ihren charakteristischen Widersprüchen. Zugleich setzt er sie unerbittlich den Konsequenzen der ökologischen Katastrophen aus.
- Ganz wie Friedrich Dürrenmatt befolgt Boyle die Maxime: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“
Frankfurter Rundschau am 14.5.2023:
- „Wir werden überleben, aber wir können bereits die Verwüstungen sehen, die der Klimawandel unseren Gesellschaften gebracht hat“, sagte Boyle der Deutschen Presse-Agentur. „Und wir können uns auf den Zusammenbruch unserer Gesellschaften freuen. Wir erleben einen Aufstieg des Faschismus in Amerika und Europa. Gangs werden herrschen. Die Hoffnung wird sterben.“
- Eine Motivation, den Roman zu schreiben, seien die Informationen über den katastrophalen Rückgang der Populationen bei Fluginsekten gewesen, sagte der US-Autor. Das habe ihn nachdenken lassen über die Folgen für die Nahrungskette, die auch die höheren Arten inklusive der Menschen betreffe. Coopers und Cats Mutter versucht im Roman, Gerichte aus Insekten zuzubereiten. „Aber wenn sogar Insekten verschwinden, was dann?“
Franzobel: „Die Eroberung Amerikas“
Beat Mazenauer am 7.7.2023 in literaturkritik.de:
- Die Geschichte ist immer auf Seiten der Sieger. Die Chronisten rücken sich selbst ins Licht und schreiben die Feinde schlecht. „Die jeweils Herrschenden sind“, formulierte es Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, „die Erben aller, die je gesiegt haben“, wogegen die Verlierer als Beute „im Triumphzug mitgeführt“ werden. So ist zu erklären, dass die angeblich gloriose Kolonialgeschichte die ihr zugrunde liegende Barbarei so lange zu verschleiern wusste. Als Mittel dagegen riet Benjamin 1940, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ und, mit einem Wort des Historikers Fustel de Coulanges, alles historische Wissen „sich aus dem Kopf zu schlagen“. Der neue Roman von Franzobel folgt diesem Rat und ruft die Geschichte der Eroberung Amerikas als das „erfolgloseste aller spanischen Unternehmen“ in Erinnerung. Er erzählt von Hernando de Soto, der 1539 den Versuch unternahm, in Florida das mythische Eldorado zu finden. Gleich zu Beginn teilt uns Franzobels Erzähler mit, dass er de Soto der Einfachheit halber Ferdinand Desoto nennen wolle; und im selben Atemzug gibt er zu erkennen, was er von Benjamin gelernt hat: „Geschichte wird von den Siegern geschrieben, von denen, die Geld und Einfluss haben“. Allerdings will er gar nicht an dieser Perspektive rütteln, auch sein Roman erzählt von den „Siegern“, die Frage ist nur, wie er es tut.
- Gerade in dieser verfremdenden Form macht uns Die Eroberung Amerikas hellhörig für das, was Siegergeschichte genau meint. …(Franzobel) Sein Dreh ist ein anderer. Er gibt den Hochmut der Sieger der Lächerlichkeit preis, indem er sich in das „wahre“ Wesen der Eroberer und Abenteurer einfühlt und sie zeigt, wie sie tatsächlich gewesen sein könnten: dumpfe Rassisten und windige Abenteurer, „Soziopathen“, wie es einmal heißt, die blind waren sowohl für die fremde Lebensart wie für die eigene Armseligkeit.
Joachim Scholl in Deutschlandfunk Kultur am 2.2.2021:
- „Ich habe einerseits versucht, sehr nahe an der Historie dran zu sein und die Geschichte möglichst wahrhaftig zu erzählen“, sagt Franzobel. „Es ging dann aber für mich nur über den Humor. Sowohl ich als auch der Leser – wir brauchen den Humor, damit wir nicht nach zwanzig Seiten sagen: Diese Geschichte ist so fürchterlich – man mag das zwar verstehen, aber man mag sich das nicht antun.“
- Durch Unterhaltung könnten die Lesenden das Geschehen besser verdauen – auch wenn das Lachen im Hals stecken bleibe.
- Zum Amüsement gehören auch Verfremdungen und immer wieder ein Heraustreten aus dem historischen Stoff: So sprechen de Sotos Männer, als ob sie im 21. Jahrhundert lebten, erfinden nebenbei den American Football und den Hamburger.
Bories von Berg in Literaturzeitschrift.de am 13.9.2021:
- So wohltuend der allenthalben waltende Sarkasmus das Ungeheuerliche zu relativieren vermag, so störend werden dann aber auf Dauer auch die vielen Kalauer, sie wirken sprachlich oft wie an den Haaren herbeigezogen. Bei aller lobenswerten Fabulierlust letztendlich also entschieden zu viel Klamauk!
Carsten Otte am 3.2.2021 in der taz:
- Ein New Yorker Anwalt klagt im Namen aller indigenen Stämme gegen die Vereinigten Staaten und verlangt radikale Wiedergutmachung für historische Verbrechen: „Sie bezichtigten die USA der illegitimen Landnahmen, wollten eine Rückgabe des gesamten Bundesgebietes – und zwar einschließlich Alaska und Hawaii sowie aller beweglichen und unbeweglichen Güter. Der zuständige Richter hält das Verfahren für „völlig idiotisch“, doch Franzobel nutzt seine literarischen Freiheiten und lässt den Ausgang des Prozesses durch ein paar juristische Winkelzüge keineswegs eindeutig erscheinen. Trotzdem wirkt dieser Handlungsstrang nicht überzeugend.
- So plausibel es ist, die Welt als stinkendes Irrenhaus zu beschreiben, die fehlenden Nuancen werden auf der langen Strecke zum Erzählproblem.
- Warum Franzobel zum Schluss auch noch ein Loblied auf das männliche Durchhaltevermögen singt, ist schwer nachzuvollziehen. Im Nachwort gibt der Autor zu, ohne das beherzte Eingreifen des Verlegers wäre das Buch „bestimmt doppelt so dick geworden“. Schon in dieser Fassung mit rund 550 Seiten gibt es leider Längen und Wiederholungen, vor allem viele grausame Szenen, die vergangene Gesellschaften durchaus realistisch beschreiben, in der Lektüre dann aber doch sowohl ermüdend als auch abstoßend sind.