Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht, Roman, auf Deutsch bei Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022, Original Plovdiv/Bulgarien 2020 (Gebunden mit Schutzumschlag, 342 Seiten, 24,- Euro)
Aufgrund des geringen Zeitabstands zum letzten Literaturforum wird diesmal nur ein Roman aufgerufen.
„Zeitzuflucht“ von Georgi Gospodinov wurde in Bulgarien schon 2020 veröffentlicht – das zu wissen, ist nicht unwichtig. Denn Sie werden beim Lesen des Romans bemerken, dass der Autor in seinem Buch geradezu prophetische Qualitäten in Bezug auf die Geschehnisse in Osteuropa entwickelt. Aber nicht nur dort wird Zuflucht in vermeintlich guten alten Zeiten gesucht…
Worum geht’s? – Ein Ich-Erzähler trifft auf Gaustín, einen Zeitreisenden, der ihn mit seiner Liebe zu Dingen und Geschichten aus der Vergangenheit fasziniert. Dieser Gaustín stellt fest, dass Menschen, deren Gedächtnis schwindet, sich erinnern, wenn sie Gegenständen, Bildern, Musik oder Gerüchen aus ihrer Vergangenheit begegnen – eine Erkenntnis, die wir aus der Demenzforschung kennen. So entwickelt er die Idee, eine Klinik für die Vergangenheit zu schaffen, in der in den diversen Stockwerken verschiedene Jahrzehnte rekonstruiert werden, die das Leben heutiger Alzheimer- oder Demenzpatienten ausgemacht haben. „Für sie ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart ein fremdes Land, die Vergangenheit ist ihre Heimat.“ Diese Heimat möchte Gaustín den Kranken zurückgeben. Es sind „Zeitschutzräume“, die für die Patienten „einen Raum synchron zu ihrer inneren Zeit schaffen.“
Doch es scheint, dass der Wunsch, die Vergangenheit zu bewohnen, in der man sich aufgehoben fühlt, nicht nur Kranken, sondern auch gesunden Menschen ein Wohlfühlgefühl vermittelt, dem man sich lieber hingibt als den Schwierigkeiten der Gegenwart. Immer mehr Gesunde suchen in Gaustíns Klinik Zuflucht, das Unternehmen expandiert explosionsartig und eröffnet ständig neue Häuser.
Weil immer mehr Menschen die Gegenwart grau erscheint, Zukunftsangst herrscht, blickt man lieber zurück. Überall in Europa setzt eine Massenbewegung ein, die die jeweils eigene Vergangenheit nostalgisch verklärt. Das geht so weit, dass die Spitzen der EU Gaustìn aufsuchen, um mit ihm zu beraten, wie sie ein Europa der Vergangenheit aufbauen können – und so entsteht die Idee von Vergangenheitsreferenden, die in den einzelnen Ländern durchgeführt werden. Welche Vergangenheit soll es jeweils sein? Gospodiv spielt in seinem Roman das Leben als Reenactment, als Wiederaufführung der Vergangenheit, konsequent für einzelne Länder durch…
In Gospodinovs „Zeitzuflucht“ können wir nachlesen, wie sich die zweite Realität neben der Gegenwart weiterentwickelt, wie die Gegenwartsflucht eine gesamteuropäische Dimension bekommt. Eine kollektive Demenz, die sich in Europa der nationalen Erzählung zuwendet: vom 21. zurück ins 20. (und 19.) Jahrhundert.
„Zeitzuflucht“ ist ein ausgesprochen origineller, weitsichtiger und kluger Roman, voller Hintersinn und literarischer Anspielungen. So, wie Gospodinov hier unsere Gegenwart philosophisch und politisch in der Literatur ausleuchtet, hat er einen großen Roman geschrieben. Literatur, die auf der Höhe unserer Zeit ist und zugleich in der Zeit nicht flüchtig sein wird.
Rita Thies
Georgi Gospodinov wurde 1968 im bulgarischen Jambol geboren, lebt und arbeitet heute in Sofia. 2009 war er Stipendiat des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes in Berlin. Der Schriftsteller ist breit aufgestellt: Er schreibt Prosa, Lyrik, Romane und Drehbücher.