Literaturforum am 14. Juli 2020 im Online-Chat

Juli Zeh: Corpus Delicti


(2009) hier: btb Verlag 2010 f.


Ein Titel von Juli Zeh war im Literaturforum schon einmal aufgerufen. Das war im November 2016, „Unterleuten“, ein Gesellschaftsroman, der auf dem Dorf spielt und damals just erschienen war. „Corpus Delicti“ wurde als Roman schon vorher, 2009, veröffentlicht, das Theaterstück, das dem Buch vorausging, schrieb Zeh für die Ruhrtriennale 2007. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und den ihr folgenden Einschränkungen ist „Corpus Delicti“ – ansonsten vielfach auf dem Deutschlehrplan der Oberstufe zu finden – wiederholt in unterschiedlichen Zusammenhängen munter zitiert worden. Auch die Autorin selbst sah sich aktuell veranlasst, ein erläuterndes Buch zum Roman zu schreiben: Fragen zu Corpus Delicti*.

Irgendwo in Mitteleuropa, in der Mitte des 21. Jahrhunderts. In der Gesellschaft, in der Mia Holl, eine Wissenschaftlerin, lebt, ist Gesundheit zum obersten Staatsziel bestimmt worden. Diese „Methode“ klingt für viele vernünftig, so dass sie sich freiwillig auch der individuellen Verpflichtung zur Gesundheit und allumfassender Überwachung unterordnen. So auch Mia. Ihren Bruder Moritz hingegen drängt es aus der verordneten antiseptischen Welt in das Leben hinaus, er hinterfragt und bricht die Regeln, indem er sich z.B. in der freien Natur bewegt und raucht. Fälschlicherweise wird er der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt und nimmt sich im Gefängnis das Leben. Mias Zweifel an der Methode wachsen und führen schließlich dazu, dass sie zur Staatsfeindin erklärt wird und ihr wegen „methodenfeindlichen Verhaltens“ der Prozess gemacht wird. Ihr Antagonist ist Heinrich Kramer, der die theoretischen Grundlagen für die Methode entwickelt hat und eine moderne Hexenjagd auf sie veranstaltet… (Der historische Heinrich Kramer lebte im 15. Jahrhundert im Elsass und schrieb den berüchtigten „Hexenhammer“.)

Genügend Stoff für Diskussionen liefert die Dystopie, die Zeh in ihrem Roman entwickelt, allemal. Denn sie knüpft in der Fiktion an Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft an, Fitnesswahn, Gesundheitskontrollen oder der Chipentwicklung für den Körper… Und sie stellt die großen Fragen, was uns als Menschen und als Gesellschaft wirklich ausmacht.


* Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb Verlag 2020

(Erläuterungen und Hintergrund zum Roman. Kurios ist, dass sich die Autorin in Du-Form selbst befragt, das hätte man besser lösen können. Wahrscheinlich hat die Pandemie die Geschwindigkeit der Veröffentlichung bestimmt. Ich habe das Buch auch ein wenig als Versuch gelesen, ihren zutiefst politischen Roman auch politisch eindeutig jenseits irgendwelcher Aluhutinterpretationen zu verorten, die ihre Fiktion für Realität ansehen.)

Rita Thies