Literaturforum am 16. November 2021 im Literaturhaus

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau / Hervé Le Tellier: Die Anomalie


Auf dem Programm dieses Literaturforums stehen die Träger*innen des Deutschen Buchpreises 2021 und des Prix Goncourt 2020.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2021, 429 Seiten, 24,- Euro

Hervé Le Tellier: Die Anomalie, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 350 Seiten, 22,- Euro (Original „L’Anomalie“ bei GALLIMARD, Paris 2020)

 

Blaue Frau

Adina Schejbal, die Protagonistin in Strubels Roman „Blaue Frau“, ist eine junge Frau aus einem Touristenort im tschechischen Riesengebirge, die 2006 nach Berlin reist, um dort einen Sprachkurs zu besuchen. Ohne gleichaltrige Freund*innen aufgewachsen, ist sie fasziniert von dem Leben der Bohème um die Fotografin Rickie. Sie ist es, die Adina einen Job als Praktikantin auf einem abgelegenen Gut nahe der polnischen Grenze in der Uckermark vermittelt. Das soll zum Kulturort umgebaut werden. Razvan Stein, ein skrupelloser Geschäftsmann aus dem Westen Deutschlands, will auf die Weise in den Genuss von EU-Geldern kommen. So zögert er auch nicht, Adina dem einflussreichen Kulturfunktionär Johann Manfred Bengel zuzuführen, der sie vergewaltigt. Zutiefst traumatisiert flüchtet sie von dort und landet über Umwege in Helsinki. Dort lernt sie Leonides kennen. Die Beziehung zu dem estnischen EU-Diplomaten und Kämpfer für Menschenrechte gibt ihr eine neue Sicherheit, endet jedoch abrupt, als Adina die Stimme ihres Peinigers im Gespräch mit Leonides auf einem Empfang hört. Schließlich vertraut sie sich der engagierten Politikerin Kristiina an, mit der sie erwägt, Bengel vor Gericht zu bringen…

Das ist die äußere Geschichte, die Antje Rávik Strubel uns in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman nach und nach erzählt. Nicht chronologisch – sie beginnt in Helsinki – sondern das Geschehen setzt sich Stück für Stück aus Rückblenden und Vorausdeutungen zusammen. Die Traumatisierung, die Adina erfahren hat, ist dabei von Beginn an spürbar. Ihre Wahrnehmung der Umwelt ist die einer Frau, die sich gänzlich verloren hat. Auch ihr „Kleiner Mohikaner“, ihr zweites, männliches Ich, das sie schon als Jugendliche stark und frei gemacht hat, ist verschwunden.

Diese persönliche Leidensgeschichte verbindet Strubel mit dem feinen Blick auf gesellschaftliche Machtstrukturen. Dieser richtet sich sowohl auf das ungleiche Verhältnis zwischen Mann und Frau als auch das zwischen West und Ost in Europa. So wird schon in den Figurenzuordnungen die Selbstverständlichkeit erfahrbar, mit der der Westen sein Überlegenheitsgefühl nicht nur demonstriert, sondern gegenüber dem Osten rücksichtslos durchsetzt.

Und die „blaue Frau“? – Diese begegnet der Ich-Erzählerin in Helsinki am Wasser immer wieder. Es sind zwischengeschaltete Passagen, die die Erzählung unterbrechen, eine Metaebene, die Strubel eingezogen hat. „Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.“ – Warum? Das gibt, wie vieles in diesem aufwändig konstruierten Roman, genügend Gesprächsstoff fürs Literaturforum…

 

Die Anomalie

2020 in Frankreich erschienen und mit dem Prix Goncourt bedacht, spielt „Die Anomalie“ in der damals nahen Zukunft, im Jahr 2021. Der Plot: Im März startet eine Boeing der Air-France mit 243 Passagieren von Paris nach New York und gelangt über dem Atlantik in Turbulenzen. Ein riesiger Cumulonimbus, eine Gewitterwand aus Wasser und Eis, bringt das Flugzeug beim Durchqueren fast zum Absturz. Als das Flugzeug in den USA ankommt, gibt es Probleme, der Landeanflug wird verweigert. Die Luftabwehr zwingt den Kapitän zur Landung auf einem Militärflughafen. Denn: Es ist der 24. Juni und am 10. März ist die identische Maschine schon einmal gelandet; die identische Maschine mit den identischen Passagieren, der identischen Crew. Die Realität wurde verdoppelt. Militär, Geheimdienst, Politik werden eingeschaltet, Wissenschaftler und Religionsführer versuchen Erklärungen zu finden. Waren es Wurmlöcher im All oder eine Art Fotokopierer, der alles verdoppelt hat, oder ist die Welt sowieso nur eine Simulation? Und was bedeutet das für die Menschen, die nun alle zweimal existieren, und was macht ein Lebensunterschied von 3 Monaten?

Rasant spielt Hervé Le Tellier diese Fiktion in seinem Roman mit verschiedenen Figuren durch: Da gibt es den Auftragskiller Blake, der sowieso ein Doppelleben führt. Die Cutterin Lucie, die mit ihrem Liebhaber, dem älteren Architekten André unterwegs ist. Der homosexuelle nigerianische Sänger Slimboy, die erfolgreiche Anwältin Joanna, das Mädchen Sophia, das ihrem Vater ausgeliefert ist… Um alle diese Figuren schafft Le Tellier in einem rasanten Tempo ein eigenes Erzähluniversum und spielt zugleich mit literarischen Genres. Das gestaltet das Lesen überaus unterhaltsam, entwickelt an vielen Stellen aufgrund des messerscharfen Humors und der ironischen Gesellschaftszeichnung eine hypnotisierende Kraft. Und der kluge Diskurs über Parallelwelten, in denen wir leben, der wird – wie der gesamte Roman – genügend Stoff für Diskussion im Forum geben.

 

Rita Thies

 

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