Literaturforum am 24. März 2020 im Online-Chat

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse / Stanislaw Lem: Solaris


Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse (Polnisches Original 2009, auf Deutsch 2011 und 2019) / Stanislaw Lem: Solaris (Polnisches Original 1961, auf Deutsch 1972 f.)

„Ein gutes Buch muss sich nicht durch Gattungszugehörigkeit beweisen“, stellt Olga Tokarczuk in ihrer Vorlesung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2018 fest. „Zudem klammern sie (die literarischen Gattungen) jegliche Exzentrik aus, ohne die es keine Kunst gäbe.“*
So griffe denn auch die Bezeichnung „Kriminalroman“ für „Gesang der Fledermäuse“ zu kurz, zumal genügend Exzentrik jedweder Art in diesem Roman der polnischen Schriftstellerin zu finden ist.
Da ist zuerst einmal die etwas sonderlich wirkende Protagonistin, die Ich-Erzählerin Janina Duszejko. Eine schon etwas ältere Frau, die abseits eines kleinen polnischen Dorfes auf einer einsamen Hochebene in der Nähe der tschechischen Grenze lebt. Die frühere Brückenbau-Ingenieurin erteilt Kindern Englischunterricht und hütet die Sommerhäuser ihrer abwesenden Nachbarn. Janina Duszejko ist zudem eine leidenschaftliche Tierfreundin und pflegt ihr Faible für Astrologie und für die Dichtung des Naturmystikers William Blake.
Als sie und ihr Nachbar Matoga einen weiteren Bewohner des Plateaus tot auffinden, entdecken sie einen Rehknochen in seinem Hals. Bigfoot, so der Name, den Janina ihm gegeben hat, bleibt jedoch nicht der einzige, der plötzlich stirbt. Janina sieht bei den Leichen Tierspuren und versucht vergebens die Ermittler davon zu überzeugen, dass die Tiere sich an den Menschen rächten …
So eigenwillig wie die Protagonistin denkt und wirkt, entwickelt sich auch die weitere Erzählung. In ihrer feinen ironischen Überspitzung verhandelt sie dabei gleichermaßen unterhaltsam und kritisch das Verhältnis des Menschen zu Tier und Natur.

* Olga Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, Kampa Verlag AG, Zürich 2020, S.23

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Der von Stanislaw Lem (1921-2006) im Jahr 1961 in Polen veröffentlichte Roman „Solaris“ gilt als Klassiker der Science-Fiction-Literatur. Doch auch diese literarische Klassifizierung greift viel zu kurz, denn Lem geht es in „Solaris“ ebenfalls um philosophische, zivilisationskritische Fragen.
In einer unbestimmten Zukunft reist der Weltraumforscher und Psychologe Kris Kelvin zu einer Forschungsstation auf dem Planeten Solaris. Dieser Planet wird von einem Ozean mit einer gallertartigen Masse bedeckt, der schon lange erforscht wird, da seine Veränderungsmöglichkeiten den Menschen Rätsel aufgeben. Als Kelvin auf dem Planeten ankommt, stellt er fest, dass Dr. Gibarian just vermutlich Selbstmord begangen hat. Auch die beiden anderen Forscherkollegen, Dr. Snaut und Dr. Sartorius, benehmen sich überaus seltsam, sie scheinen Besuch von geheimen Gästen zu haben. Auch Kelvin erhält Besuch, seine schon lange verstorbene Freundin Harey sitzt plötzlich in seinem Zimmer. Illusion oder Wirklichkeit? Kelvin traut seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr und versucht Harey loszuwerden. Gar nicht so einfach, denn sie scheint so etwas wie eine Projektion zu sein, die der Ozean aus Kris Kelvins Erinnerungen schafft …
Ist der Mensch in der Lage, mit einer solch andersartigen Intelligenz Kontakt aufzunehmen oder unfähig, die eigene Perspektive zu verlassen?

Rita Thies