Literaturforum am 17. November 2020 im Online-Chat

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste


Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020

2014 stand er mit „Pfaueninsel“ auf der Short-List für den Deutschen Buchpreis, in diesem Jahr gelang Thomas Hettche mit „Herzfaden“ in die Runde der sechs besten aus 187 nominierten Romane.
In „Herzfaden“ erzählt Hettche von der Sehnsucht, sich im Nachkriegsdeutschland neu zu erfinden, von dem Wunsch, mittels phantasievoller Geschichten das Gift loszuwerden, mit dem der Nationalsozialismus die Herzen infiziert hat.
Die Handlung entwickelt er in zwei Erzählsträngen: Nach dem Besuch einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste öffnet ein namenloses zwölfjähriges Mädchen im Theater eine versteckte Tür und landet auf einem dunklen Dachboden. Dort trifft sie auf all die Marionetten, die Millionen deutsche Kinder und Erwachsene aus den Aufzeichnungen des Fernsehens kennen. Lebendig sind die Holzfiguren, ebenso wie ihre schon verstorbene Erschafferin, die Marionettenbauerin Hannelore Oehmichen, genannt Hatü. Diese vertraut dem Mädchen nach und nach ihre Geschichte an, die der Gründung und des Erfolgs des Augsburger Puppentheaters.
Hatü ist acht Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg beginnt und ihr Vater Walter Oehmichen eingezogen wird. Im Krieg bringt der Schauspieler und Oberspielleiter die Idee eines Marionettentheaters mit nach Hause, baut zuerst für seine Töchter eine Bühne. Der „Puppenschrein“, so nennt Oehmichen sein Theater, wird bald auch ein öffentlicher Erfolg. Die Augsburger Bombennacht von 1944 beendet diesen, da die Bühne verbrennt. Nach dem Krieg setzt Oehmichen alles daran, eine Lizenz für eine Marionettenbühne zu erhalten:
„Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an die Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.“ Und alles was war, soll eingesperrt werden in die Kiste, die sie aus den Brandruinen gerettet haben, und neu wieder herauskommen. – Kann das gelingen? Hatü, die zur Puppenschnitzerin des Theaters wird, sucht mit ihren Freunden jenseits der bekannten Märchen nach neuen Erzählungen, die sie auf die Bühne bringen, z.B. „Der Kleine Prinz“. Das Fernsehen, das gerade mit ersten Sendungen startet, entdeckt die Marionettenbühne und ihr Potenzial… Und so machen sich die „Herzfäden“ von Urmel, Jim Knopf, dem Kleinen König Kalle Wirsch u.v.a.m. an den Herzen der Menschen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fest, in der Hoffnung, mit dem Puppenspiel ein Stück verlorener Unschuld zurückzuerlangen. Doch auch bei Hatü wirken die Geister der Vergangenheit fort…
„Roman der Augsburger Puppenkiste“ – Thomas Hettche hat seine Ankündigung, und das macht diesen Roman besonders, auch formal als „unschuldige“ Geschichte im Märchen- bzw. Kinderbuchton erzählt. Ein Marionettenspiel, das Kleists Gedanken „Über das Marionettentheater“ auf eigene Weise illustriert.

Rita Thies