Literaturforum am 18.10.2022 im Literaturhaus

Stewart O'Nan: Stadt der Geheimnisse / Ulla Lenze: Der Empfänger


  • Stewart O’Nan: „Stadt der Geheimnisse“, Roman, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020, 221 Seiten (Tb, 12,- Euro)
  • Ulla Lenze: „Der Empfänger“, Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 302 Seiten (Hardcover, 22,- Euro)

 

Der fünfte Roman der 1973 in Mönchengladbach geborenen und mehrfach ausgezeichneten Autorin Ulla Lenze, „Der Empfänger“, ist historisch grundiert, literarisiert – so die Autorin vorweg – aber auch den Protagonisten. Der Roman knüpft an die Lebensgeschichte ihres Großonkels Josef Klein an, der u.a. in den USA Ende der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Duquesne-Spionagering* gehörte.

Ulla Lenze erzählt die Geschichte Josef Kleins nicht chronologisch, sondern wechselt die Zeitebenen. 1939 lebt Joe Klein in New York, 1949 wird Josef aus den USA ausgewiesen und besucht seinen Bruder Carl in Neuss, 1953 lebt José Klein in Costa Rica. Der Reihe nach:

Josef Klein gehört im Winter 1924/25 zu den vielen armen deutschen Auswanderern, die sich in dieser Zeit in die USA aufmachen, um ein besseres Leben zu finden. Er bekommt dort einen Job in einer kleinen Druckerei in New York, liebt  Jazzmusik und führt ein zurückgezogenes Leben. Seine Passion ist sein Funkgerät, das ihn mit Menschen aus aller Welt verbindet. Auf diesem Wege lernt der Amateurfunker seine spätere Freundin Lauren kennen. Über Kunden der Druckerei macht Joe Klein Bekanntschaft mit dem Amerikadeutschen Bund und dessen Bundesleiter Fritz (Julius) Kuhn. Im Umfeld dieser nationalsozialistischen und antisemitischen Bewegung lernt er einen Textilhändler kennen, für den er Zahlenreihen nach Deutschland funken soll, gegen Geld. Immer knapp bei Kasse nimmt Klein diesen Auftrag an und verstrickt sich nach und nach in die Spionagetätigkeit, dessen Kopf vor Ort Fritz (eigentlich: Frederick) Joubert Duquesne ist. Durch seine Freundin Lauren angetrieben, möchte Joe die Funkarbeit für den Spionagering beenden. Dass dies nicht so einfach möglich ist, wird ihm klar, nachdem man ihn zusammengeschlagen hat. Da er selbst nicht zum FBI geht, handelt Freundin Lauren für ihn… – Mehr mag ich den Leser*innen hier nicht vorwegnehmen.

Mein Schnitt an dieser Stelle des Romans sollte Sie nicht fälschlicherweise auf den Gedanken bringen, Ulla Lenze hätte einen Spionagethriller schreiben wollen oder geschrieben. Nicht umsonst erzählt sie auch von seinem Leben Jahrzehnte später. Lenze veranschaulicht, wie jemand, der seinen Platz in der Welt sucht, die in Aufruhr ist, gleichermaßen naiv und willfährig zum Nazi-Kollaborateur werden kann. Ab wann wird er schuldig, wann hätte er widerstehen müssen? – Ab wann werden wir zu Täter*innen?

*Die Mitglieder des Duquesne-Spionagerings konnten am 29. Juni 1941 – also vor dem Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 – durch den Einsatz des Doppelagenten William G. Sebold vom FBI verhaftet werden. Die meisten waren deutsche Auswanderer mit amerikanischer Staatsangehörigkeit.

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In seinem Roman „Stadt der Geheimnisse“ führt uns der 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geborene und auch heute dort lebende Autor Stewart O’Nan in das Jerusalem unter der britischen Mandatsherrschaft direkt nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die rigide Einwanderungspolitik der Briten lässt kaum Juden nach Palästina einreisen. Dem lettischen Juden Jossi Brand, der als einziger in seiner Familie das Lager überlebt hat, gelingt es, nach Jerusalem zu kommen. Mit gefälschten Papieren, immer in der Gefahr, aufzufliegen, fährt er Taxi. Er schließt sich einer Zelle der Untergrundbewegung an, um für einen jüdischen Staat zu kämpfen und kommt sowohl mit der Hagana, der Irgun und der Stern-Bande in Kontakt. Jossi arbeitet bei den Aktionen und Anschlägen als Fahrer, weiß oft nicht, wer der Zelle den Auftrag gegeben hat. Gehören sie noch zur Hagana oder kämpfen sie für die Irgun, die auch blutigere Anschläge befürwortet? Doch er möchte diesmal alles richtig machen – Jossi ist als den Holocaust-Überlebender schwer traumatisiert, kämpft gegen das Gefühl des völligen Versagens in einer Situation an, in der ein Nazischerge seinen Freund und Mithäftling im KZ zu Tode prügelte. „Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern.“ Das bedeutet, kämpfen zu müssen.

Zweifel überkommen ihn, als ein Mitkämpfer aus seiner Zelle, Lipschitz, als Verräter bezeichnet und brutal hingerichtet wird. Zuflucht und Unterstützung sucht er bei seiner neuen Freundin, die ebenfalls schwer traumatisiert ist: Eva, eine ehemalige Schauspielerin, die die Schreckensherrschaft und Lager der Nazis mit physischen und psychischen Narben überlebt hat. Sie arbeitet für die Untergrundbewegung als Prostituierte, die aus den britischen Besatzern geheime Informationen herauslocken soll. Doch Eva versteht Jossis Zweifel und Skrupel nicht, für die gerechte Sache seien alle Mittel recht, bei einem Verräter allemal.

Schließlich wird Jossi Zeuge des Attentats der Irgun auf das berühmte King David Hotel, ein Luxushotel, in dem auch die Verwaltungszentrale der britischen Mandatsmacht angesiedelt ist…

Auch O’Nans Roman liest sich auf den ersten Blick wie ein Thriller. Aber mehr noch ist er ein großer Roman darüber, was das Menschsein ausmacht. Darf derjenige, der brutalste Gewalt erlebt hat und nichts mehr zu verlieren hat, selbst zur Gewalt gegen Menschen greifen, morden? –

O‘ Nan hat seiner Geschichte ein Zitat Menachem Begins vorangestellt: „Der Engel des Vergessens ist ein gesegnetes Wesen.“ – Der Anschlag der Irgun auf das King David Hotel fand am 22. Juli 1946 tatsächlich statt. Die zionistische Gruppe unter ihrem Anführer Menachem Begin, dem späteren Ministerpräsidenten Israels (1977-1982) und Friedensnobelpreisträger, sprengte einen Flügel des Jerusalemer Luxushotels in die Luft. 91 Menschen starben, einer Vorwarnung eine halbe Stunde zuvor wurde keine Beachtung geschenkt.

Rita Thies