Literaturforum am 19. Mai 2020 im Online-Chat

Norbert Scheuer: Winterbienen


Verlag C.H.Beck, München 2019, 319 Seiten


„Winterbienen“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 und wurde mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.*

„Winterbienen“  ist als fiktives Tagebuch verfasst, das der Imker Egidius Arimond von Januar 1944 bis Mai 1945 führt. Arimond lebt in Kall in der Eifel – Wohnort auch des Autors – und versucht, die Nazizeit zu überleben. Der ehemalige Lateinlehrer ist aufgrund seiner Epilepsie suspendiert und zwangssterilisiert worden. Dass er überhaupt noch lebt, hat er der Tatsache zu verdanken, dass sein Bruder ein gefeierter Fliegerheld ist. Dem Protagonisten selbst fällt es immer schwerer, an Medikamente gegen seine Krankheit zu gelangen. So hilft er jüdischen Flüchtlingen gegen Bezahlung, über die belgische Grenze zu gelangen. Er versteckt sie beim Transport in großen Bienenstöcken. Doch Medikamentenbeschaffung wird trotz Geld immer schwieriger und Arimonds Angst wächst, bei Anfällen weitere Gehirnzellen und damit sein Gedächtnis zu verlieren. Sein „Bienentagebuch“, das er in den Bienenstöcken versteckt, ist der geheime Speicher seiner Erinnerungen.

Glück hat Egidius Arimond bei den Frauen, seine verschiedenen Affären sind jedoch eine weitere Quelle für Schwierigkeiten, die zunehmen …

Soweit die vordergründige Geschichte. Den verdienten Raabe-Preis begründete die Jury u.a. mit der „äußerste(n) Nähe von symbolischen Zeichen und konkreter Realität“. Dies ist es auch, was den Roman zu einem wirklichen Leseereignis macht, Zeichenhaftes zu entdecken und die Verbindungen von Erzählmotiven untereinander herzustellen. Während der Zweite Weltkrieg tobt, die Bomber über die Eifel hinwegfliegen und die Welt um ihn herum zerfällt, übersetzt Egidius eine Schrift seines Vorfahren Ambrosius Arimond. Ein ehemaliger Benediktinermönch, der sich nicht nur ebenfalls um Bienenvölker kümmerte, sondern dafür sorgte, dass das Herz des verstorbenen Kirchenmannes und Philosophen Nicolaus Cusanus (Nikolaus von Kues) im 15. Jahrhundert über die Alpen nach Hause gebracht wurde. Das Kleinste korrespondiert mit dem Größten, so Cusanus, dessen totes Herz von Bienenwachs umschlossen und einbalsamiert wurde. Die Bienen sind es, die sowohl seinen Nachfahren als auch einige Flüchtende vor den Nazis retten, … Winterbienen überleben die kalte Jahreszeit.

* Der Wilhelm-Raabe-Preis ist mit 30.000 Euro dotiert und wird vom Deutschlandfunk gemeinsam mit der Stadt Braunschweig vergeben.

Rita Thies