Literaturforum am 21. Januar 2025

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen / Arianna Cecconi: Teresas Geheimnis


  • Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen, Berlin, 2022 (Verlag Klaus Wagenbach, broschiert, 14,- Euro)
  • Arianna Cecconi: Teresas Geheimnis, Wiesbaden, 2024 (S. Marix Verlag, gebunden, 22,- Euro)

 

„Sie nannten ihn den Krumenbub, weil er der Sohn des Bäckers war und weil er schwach war, er hatte keine Kruste, an der Luft gelassen, hätte er Schimmel angesetzt, nicht einmal für die Brotsuppe hätte er getaugt, nicht einmal als Hühnerfutter.“ – Es ist nicht allein dieser erste Satz des Romans, mit dem Giulia Caminito in „Ein Tag wird kommen“ die Lesenden sofort ins Bild zieht, es ist die ungeheuerliche Szene selbst, die sie mit wenigen Sätzen im Prolog erzählt: Da richtet der schwächelnde und ängstliche Bruder Nicola, der Krumenbub, das Gewehr auf seinen großen und starken Bruder Lupo und drückt schließlich ab.

Caminito erzählt die Geschichte der beiden grundverschiedenen Jungen und ihrer Familie Ceresa, die in dem kleinen Ort Serra de‘ Conti in den italienischen Marken leben. Es ist eine Familiensaga mit beeindruckenden Bildern, die das Leben der einfachen Leute auf dem Land und die Umbrüche in Politik und Gesellschaft Italiens in der Zeit von 1880 bis 1920 nachzeichnen. Als Halbpächter müssen die Bauern den Padrones viel zu viel ihrer Ernte überlassen. So verwundert es nicht, dass, wie in anderen Ländern Europas auch, die Unterdrückten gegen die Herrschaft der Wenigen rebellieren: Lupo, der starke, widerspenstige und wütende Bruder, der sowohl die weltlichen als auch die kirchlichen Herren hasst, schließt sich den Anarchisten an und ist bei dem Aufstand in Ancona (Settimana Rossa) dabei. Dann soll er als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen werden…

Neben Nicola und Lupo stellt die Autorin ein Figurenensemble vor, dessen Geschichten von Hass, Verrat, Gewalt und Schuld sich in Vor- und Rückblenden zu einem großen Roman verweben, der nach und nach dunkle Familiengeheimnisse ans Licht kommen lässt.

Geschickt einbezogen hat Caminito zudem das Leben der Äbtissin des in der Nähe befindlichen Klosters, Suor Clara. Damit setzt sie dem tatsächlichen historischen Vorbild der„La Moretta“ – so wurde sie vom Volk genannt – der als Zeinab Alif geborenen Nonne Maria Giuseppina Benvenuti ein literarisches Denkmal. Alif wurde als Kind im Sudan entführt, als Sklavin verkauft und schließlich von der katholischen Kirche zur Nonne erzogen. Die außergewöhnliche Äbtissin ist nicht die einzige Person, die das Schreiben der Autorin inspiriert hat – doch lesen Sie selbst…

 

Die Anthropologin Arianna Cecconi, die mit „Teresas Geheimnis“ ihr Romandebüt vorgelegt hat, befasst sich in Forschung und Lehre u.a. mit Träumen, Schlaf und magisch-religiösen Praktiken. Diese Kenntnisse bilden die Grundierung für eine Familiengeschichte um sechs Frauen, die im Jahr 2005 in einem Haus in der Po-Ebene zusammenkommen.

Teresa, die Großmutter der Erzählerin Nina, hat vor zehn Jahren beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Sie hat gespürt, dass sie vergisst, Demenz von ihr Besitz ergreift und beschlossen, nicht mehr zu reden, um ein Familiengeheimnis nicht zu verraten. Seit zehn Jahren liegt die schon lange verwitwete Frau nun schon schweigend im Zentrum des Hauses, dem Wohnzimmer, in dem sich die das Leben der drei Generationen von Frauen trifft. Es ist der Ort, in dem die Familie gemeinsam isst, sich Geschichten erzählt oder eine Telenovela schaut. Die Familie ist eine der Frauen, Männer leben hier nicht. Die strenggläubige Cousine Rusì wohnt im Haus, Teresas Tochter Flora und Pilar, eine Pflegerin, die aus Peru diverse magische Riten und Bräuche mitgebracht hat. Als sich Teresas Sterben ankündigt, kommen auch Teresas Tochter Irene und Enkelin Nina ins Haus. Alle Frauen verbringen Stunden an Teresas Sterbebett und entwickeln in diesen Begegnungen und in ihren Träumen ihre jeweils eigene Kommunikation mit der Sterbenden. So enthüllt sich nach und nach nicht nur Teresas Geheimnis, sondern auch so manche versteckte Kränkung…

 

Während Caminito ihren Roman vor großen historischen Umbrüchen entfaltet, bezieht Cecconi sich auf den kleinen geschlossen Lebensradius der sechs Frauen. So unterschiedlich die erzählte Wirklichkeit bei beiden ist, so schaffen doch beide Autorinnen einen Kosmos voller Figuren mit Lebensgeschichten, die zutiefst berühren.

Rita Thies