Literaturforum am 25. Januar 2022 – via Zoom

Mithu Sanyal: Identitti / Michela Murgia: Chirú


Mithu Sanyal, Identitti, Carl Hanser Verlag GmbH, München 2021

Michela Murgia, Chirú, dtv Verlag, München 2020 oder Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017

Mit „Identitti“ und „Chirú“ sind im Literaturforum zwei aktuelle Romane aufgerufen, in denen von der Identitätsfindung junger Erwachsener mit einer jeweils besonderen Beziehung zu ihren Lehrerinnen erzählt wird. In beiden Geschichten sind dies äußerst intelligente, selbst- und karrierebewusste, aber auch selbstgefällige Frauen mittleren Alters, die sich den Jüngeren zuwenden und deren bewunderte Vorbilder sie sind. Damit enden jedoch schon die Gemeinsamkeiten beider Romane, denn sowohl das Setting als auch die Erzählperspektive könnten nicht unterschiedlicher sein.

 

Mithu Sanyal blickt in „Identitti“ mit den Augen der sechsundzwanzigjährigen Studentin Nivedita Anand auf das Geschehen. Nivedita ist in Deutschland als Tochter einer Sozialarbeiterin mit polnischen Wurzeln und eines Inders, eines Mathematiklehrers, geboren und aufgewachsen.  Sie hadert mit ihrer Identität, denn aufgrund ihrer Hautfarbe fühlt sie sich nirgends zugehörig, weder fühlt sie sich „deutsch“ noch richtig „indisch“.

Dies ändert sich, als sie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf im Masterstudiengang Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie auf die charismatische Professorin Saraswati trifft, die mit ihrem Buch „Decolonize your Soul“ eine berühmte und gefragte Expertin in Fragen des Rassismus ist. Saraswati, nach der hinduistischen Göttin der Weisheit benannt, ist so, wie Nivedita gern sein möchte: eine Person of Color, stolz darauf, dies zu sein. Sie gibt ihren Student*innen das Gefühl, wichtig und wert zu sein, und schmeißt zu Anfang des Semesters demonstrativ all diejenigen raus, die sich „weiß“ fühlen, um mit ihnen anschließend im persönlichen Gespräch über Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Saraswati liefert Nivedita zudem ihr theoretisches Handwerkszeug, mit dem diese ihren Blog zu den Themen Rassismus und Sex unter „Identitti“ und „Mixed-Race Wonder-Woman“ schreibt. Rasse, Klasse und Gender, dies sind soziale und politische Konstrukte. Es ist die vergötterte Professorin, die „Nivedita ein Vokabular und eine Sprache für ihr Leben“ schenkt.

Umso größer ist die Enttäuschung der Studentin, als durch eine gezielte Indiskretion von Saraswatis Bruder bekannt wird, dass die Professorin eigentlich eine „Weiße“ ist und Sarah Vera Thielmann heißt. In den Medien und im Internet entlädt sich ein Tsunami der Empörung über solche kulturelle Aneignung. Von Identitätsdiebstahl und „Blackfacing“ ist die Rede. Während die People-of-Color-Community vor Saraswatis Wohnung demonstriert und die Entlassung der Professorin fordert, sucht Nivedita schließlich diese auf, um eine Erklärung zu bekommen, um zu verstehen.

Nach und nach finden sich weitere Personen in der Wohnung der Professorin ein, auch ihr Bruder ist darunter. Was folgt, ist ein Geschwisterkampf und eine Debatte um Identitätspolitik, die es in sich hat. Für Saraswati ist es klar: Wenn das Geschlecht wandelbar sein kann, warum nicht auch die Zuordnung einer Herkunft? Was bedeutet Selbstermächtigung tatsächlich, wer hat welche Deutungshoheit?

Sprachgewandt und schlagfertig sind jedenfalls alle, die dort zusammenkommen. Und das macht auch den Charme dieses klugen und zum Teil äußerst witzigen Erstlingswerks von Mithu Sanyal rund um den Identitätsdiskurs aus. Zudem habe ich eine Menge interessanter Anregungen zum Weiterdenken und -lesen erhalten. Wobei ich mir gewünscht hätte, das Lektorat hätte einige Längen zusammengestrichen.

– Übrigens zeigt das Schauspiel in Düsseldorf die Geschichte gerade auf der Bühne.

 

In dem 2015 im italienischen Original erschienene Roman „Chirú“ von Michela Murgia ist es nicht der junge, achtzehnjährige Musikstudent, der erzählt, sondern seine „Lehrerin“. So bezeichnet sich die achtunddreißigjährige Schauspielerin Eleonora selbst, als sie sich in ihrer sardischen Heimatstadt Cagliari auf die Bitten des jungen Manns hin darauf einlässt, ihm an dem kulturellen Kapital, das sie besitzt, teilhaben zu lassen. „Mentorin“ trifft ihre Rolle vielleicht eher, denn sie ist keine Lehrerin im traditionellen Sinne, die ihm Schauspielunterricht gibt. Sie besucht mit ihm Ausstellungen, sie sprechen über Bücher und Beziehungen. Ziel ist es, dem jungen und ehrgeizigen Bewunderer in den etablierten Kulturbetrieb einzuführen.

So lehrt Eleonora ihm das Einmaleins von „Kleider machen Leute“, auch die Masken, die im Gespräch mit karrierefördernden Menschen aufzusetzen sind. Verlogenheiten, die sie zwar ablehnt, aber trotzdem seit ihrer Kindheit bestens beherrscht und anwendet.

Die Beziehung zwischen den beiden ist unübersichtlich und ungeklärt, denn ein subtiles erotisches Begehren ist durchgehend präsent. Ihr ist das bewusst, auch wenn sie diese Erotik nicht ausleben. Sind es Fürsorge, Machtstreben oder Liebe, die Eleonora selbst antreiben?

Zumal Chirú nicht ihr erster „Schüler“ ist. Teo und Alessandro hat sie erfolgreich unterstützen können, aber der sechzehnjährige Nin hat sich durch Selbstmord dem Streben nach Erfolg entzogen.

Als Eleonora den Operndirektor Martin de Lorraine kennenlernt und sich nach Jahren wieder einmal verliebt, ändert sich die Beziehung zwischen ihr und Chirú grundlegend…

– Trotz seiner Verortung in der Gegenwart wirkt dieser Roman von Michela Murgia ein wenig aus der Zeit gefallen – und umso interessanter wird vielleicht die Frage zu diskutieren sein, wie sich das Verhältnis von Liebe, Macht und Selbstermächtigung in dieser Beziehung stellt.

 

Rita Thies

 

Hinweis: Der Zoom-Link kann ab dem 20. Januar unter literaturforum.wiesbaden@online.de abgerufen werden.