Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
„Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war. Mein Vater hat ja behauptet, ich wäre nicht von ihm, sondern von einem Russen, der ertrunken ist.“
Gleich mit den ersten zwei Sätzen in „Der Silberfuchs meiner Mutter“ lässt uns der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig spüren, dass da einer erzählt, der zutiefst schmerzhafte Erinnerungen mit sich herumträgt. Einer, der auf der Suche nach seiner Herkunft ist. Einer, der dabei keine endgültige Gewissheit erlangt. Und uns, den Lesenden, erzählt er das, als säße er direkt neben uns, am Kneipentresen oder am Küchentisch. So sind im Text die Schlüsselwörter aus den Sätzen von anderen Menschen, Sätze die sich ihm eingebrannt haben, betont hervorgehoben (kursiv). So, als habe der Schauspieler, der er später wurde, den Text seiner Rolle zur Betonung entsprechend bearbeitet.
Heinz Fritz heißt der Ich-Erzähler, der als einziges Dokument, das ihm seine Herkunft verbürgt, ein Dokument der SS-Organisation Lebensborn besitzt. In diesem ist die Reise seiner Mutter von Oslo über Kopenhagen, Berlin, München in den Vorderarlberg nach Hohenems belegt. Gerd Hörvold, eine Norwegerin aus Kirkenes, einer kleinen Stadt in der Nähe der russischen Grenze, hat sich in ihrer Heimat in den dort stationierten österreichischen Wehrmachtssoldaten Anton Halsleben verliebt. Als sie von ihm schwanger ist, beschließen die beiden, dass sie in seine Heimat nach Hohenems zu seiner Familie ziehen soll. Dort wollen die beiden dann später heiraten. Denn in Norwegen gilt sie ab jetzt als „Nazihure“. Gerd Hörvold reist im Jahr 1942 nach Hohenems und bringt schon bald nach ihrer Ankunft den Sohn zur Welt.
Von der Zeit danach weiß Heinz Fritz nichts, außer der Tatsache, dass er einige Jahre nicht bei der Mutter aufgewachsen ist. Ihre Hochzeitspläne sind mittlerweile geplatzt, der Vater will weder zu ihr noch dem Kind irgendeinen Kontakt. Der Junge wächst erst in einem Lebensborn(?)heim, dann bei einem Bauern auf. Schließlich holt Gerd Hörvold ihn im Alter von 4 Jahren, also nach Ende des Krieges und der NS-Herrschaft, dort wieder ab.
Doch auch das Leben mit der Mutter bietet ihm nicht die Liebe, nach der er sich wie jedes Kind sehnt: Die Mutter wird von epileptischen Anfällen heimgesucht und kann zu Heinz, der ihr direkt nach der Geburt weggenommen wurde, keine innige Beziehung aufbauen. „Du bist nicht von mir. Man hat dich vertauscht, sagte sie.“ Um dies zu widerlegen, spielt der Kleine ihre Anfälle nach.
Als die Mutter schließlich Reinhard Fritz heiratet, den Mann, von dem Heinz seinen Nachnamen erhält, wird das Leben des Jungen nicht besser. Der Stiefvater ist ein brutaler Mann, der eine sadistische Lust beim täglichen Töten von Kaninchen und Hühnern an den Tag legt. Er ist in der Fantasie des Jungen Dracula, der Heinz überfallen will, vor dem er sich in seinem Zimmer einsperrt. Lieber versucht Heinz, sich selbst mit einem Beil den Kopf zu spalten, was glücklicherweise misslingt. – Besser wird die Situation für die Familie in der Erinnerung des Jungen erst, als der Stiefvater stirbt und der Heinz schon früh für die Familie Geld verdient. – Doch die nächste große Enttäuschung wartet nicht lange: Der Versuch des Jugendlichen, zu seinem leiblichen Vater Kontakt aufzunehmen, endet für ihn in einem Desaster…
Es ist eine erschütternde Erzählung des alternden Heinz Fritz, die sich aus seinen Erinnerungsfetzen zusammensetzt. – Wie er das überlebt hat? – Durch die Kunst. So, wie er die Anfälle seiner Mutter nachgespielt hat, fängt er früh an, sein Leben zu spielen „Spielen, Vorspielen, Täuschen, Vortäuschen“, um sich darin zu finden. Seine Mutter und Ibsens Peer Gynt sind ihm dabei behilflich…sodass er später Schauspieler wird. – Und er findet, so erinnert er sich, glücklicherweise immer wieder Menschen, die an ihn glauben und ihn unterstützen.
Die Spurensuche zu seiner Herkunft führt Heinz tief in die Nazi-Zeit im Vorarlberg mit all dem wahnwitzigen Denken und Handeln, zu denen Menschen in der Lage waren (und sind): Antisemitismus, Lebensbornheime, Euthanasie und Judenverfolgung – all dies wird in seinen Erinnerungen mit kleinen Geschichten konkret.
Alois Hotschnig hat mit „Der Silberfuchs meiner Mutter“ einen vielschichtigen, zutiefst bewegenden Roman geschrieben. Einen Roman, den ich hier angesichts der gebotenen Kürze nur im Ansatz und unvollständig umreißen kann. – Auf meiner „Lesenswert“-Liste steht er ganz oben.
(Übrigens: Neben vielen literarischen Auszeichnungen in den letzten Jahren erhielt Alois Hotschnig im letzten Jahr Mainzer auch die Einladung zum Mainzer Stadtschreiber.)
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Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn
Nava Ebrahimi, die ebenso wie Alois Hotschnig in Österreich lebt, wurde in Teheran geboren. Sie erzählt in „Das Paradies meines Nachbarn“ eine Geschichte, in der die Frage nach dem „Wer-bin-ich“ und der Herkunft durchgängig präsent ist, aber in der neben dem Erwachsenwerden das Erwachsensein eine ebenso große Rolle spielt.
Der Halbiraner Sina Khoshbin arbeitet seit vielen Jahren als Produktdesigner in einer Münchner Agentur, als er plötzlich einen neuen Chef vor die Nase gesetzt bekommt, vor dem alle kuschen. Ali Najjar, gebürtiger Iraner, ist der Star unter den Designern, einer, der gegenüber seinen Mitarbeitern kein Pardon kennt. Die Härte ist sein Markenzeichen. Die Härte eines Mannes, der als Kindersoldat im 1. Golfkrieg (1980-1988) gekämpft und überlebt hat, der sich als Flüchtling in Deutschland emporgearbeitet hat und nun Designgeschichte schreibt. Lieber ein Arschloch als ein Opfer zu sein, so lautet sein Lebensmotto. – Sina fürchtet Ali Najjar wie alle anderen auch und beantragt spontan ein Sabbatical, als der neue Chef ihn zum Gespräch in sein Büro ruft.
Parallel wird Ali-Rezas Geschichte in Teheran erzählt: Ali-Reza wurde, wie 10.000 andere Kinder im Iran auch, von den Mullahs im Krieg gegen den Irak als Minensucher eingesetzt. Diese wurden den regulären Truppen vorausgeschickt. Versprochen wurde ihnen das Paradies nach dem Märtyrertod. Ein Versprechen, dem viele Vierzehnjährige folgten, die von dem Grauen des Krieges noch überhaupt keine Vorstellung hatten. Ali-Reza hat die Gräuel überlebt: geplagt von Alpträumen, einer vom Giftgas zerfressenen Lunge und einem Krebs, der ihn nicht mehr lange leben lässt, sitzt er mit lahmen Beinen im Rollstuhl.
Sinas Auszeit in München dauert nicht lange: Der neue Chef fordert ihn auf, mit ihm umgehend nach Dubai zu fliegen. Sina, zwar im Sabbatical, aber gerade in einer Sinn- und Ehekrise, stimmt spontan zu und schert sich auf Aufforderung von Ali Najjar sogar seinen Kopf kahl. Er weiß noch nicht, was ihn in Dubai erwartet… Sein Chef soll dort den ihm persönlich nur aus Erzählungen bekannten Ali-Reza treffen, der einen Brief von Ali Najjars verstorbenen Mutter an ihn übergeben will…
Das Verwirrspiel, das nun folgt, entfaltet sich wie eine antike Tragödie und soll hier nur insoweit verraten werden: die Frage von Schuld und Verantwortung steht zwischen diesen Männern. Eine Frage, die die Autorin im Roman schließlich auch den Europäern in Bezug auf ihre Politik und Haltung gegenüber dem Orient stellt.
Rita Thies