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Eugen Ruge: Metropol


Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 2019, 431 Seiten

In „Metropol“ erzählt Eugen Ruge die Geschichte der beiden deutschen Kommunisten Charlotte und Jean Germaine, die zur Zeit der großen Schauprozesse, der „Säuberungen“, in der Sowjetunion leben. Entwickelt hat Ruge die beiden Figuren in Anlehnung an die Biografie seiner Großeltern, doch davon später mehr.

„Germaine“ ist ein Tarnname, „Jean“ heißt eigentlich Wilhelm. Charlotte und Wilhelm sind schon seit 1933, seit die Nazis in Deutschland die Macht innehaben, in Moskau. Die beiden sind Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Komintern (Kommunistische Internationale), der Abteilung für internationale Verbindungen. Diese soll durch die Vernetzung der kommunistischen Parteien in allen Ländern die Weltrevolution vorantreiben. So jedenfalls war das bei Gründung gedacht. Seit 1922 ist Stalin Generalsekretär der Partei, und im Laufe der Zeit ändern sich viele Dinge in der jungen Sowjetunion.

Der Zeitraum, von dem Ruge in „Metropol“ nun erzählt, erstreckt sich von September 1936 bis Januar 1938. Charlotte, der eine der drei Erzählstimmen in diesem Roman gehört, hat als überzeigte Kommunistin „volles Verständnis für die aufwendigen Prüfungsroutinen, die überall ablaufen, um die Partei von schädlichen Elementen zu säubern.“ Verhaftungen und Säuberungen durch die politische Polizei, das NKWD, scheinen gerechtfertigt zu sein, denn Saboteuren und Spionen hat die Parteiführung den Kampf angesagt. Irritiert ist Charlotte, als sie von der Anklage eines alten Bekannten erfährt. Axel Emel, ein Verschwörer? Unglaublich, doch das Vertrauen in die Parteiführung ist grenzenlos. Zudem möchte das Ehepaar auch durch die Bekanntschaft nicht selbst auf der Anklagebank landen. Schnell machen sich Charlotte und Wilhelm daran, ihre frühere Bekanntschaft den Vorgesetzten zu bekunden, sich selbst des Kontaktes zu bezichtigen, bevor andere dies tun.

Ihre Arbeit in der Abteilung für internationale Verbindungen dürfen sie nicht weiterführen, sie werden jedoch nicht angeklagt oder verhaftet, sondern in dem gleichermaßen legendären und luxuriösen Jugendstilhotel „Metropol“ untergebracht. 477 Tage verbringen sie dort, jeden Tag von Ungewissheit und Angst begleitet, was mit ihnen geschehen werde. Denn plötzlich scheint jede oder jeder unter Verdacht stehen zu können, zu „Verrätern“ zu gehören und abgeurteilt und umgebracht zu werden …

Eine zweite Erzählperspektive öffnet Ruge durch die Figur der Hilde Tal, die ehemalige Frau Wilhelms, die ebenfalls für die Komintern arbeitet. Nachdem sie die Verhaftung von immer mehr „treuen“ Genossinnen und Genossen erlebt, kommt sie auf die Idee, dass das NKWD von Schädlingen unterwandert werde und Stalin davon unterrichtet werden müsse …

Mit Wassili Wassiljewitsch Ulrich, dem Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, führt Ruge eine dritte Figur ein, an deren Gedanken- und Gefühlswelt er uns durch das Mittel der erlebten Rede teilhaben lässt. Er, der Vorsitzende Richter in den Prozessen des „Großen Terrors“,  kommt gleichermaßen gewöhnlich als auch skrupellos daher.  Der Mann ist zu dick, leidet an Blähungen und der Abweisung durch seine Frau. Er wünscht sich von der Anklagevertretung im Geheimen eigentlich nur gut gefälschte Beweise, damit er für ein eventuelles Platzen eines Prozesses nicht verantwortlich gemacht werden kann …

Historisch belegt ist, dass Ulrich in dieser Zeit mehr als 30.000 Todesurteile unterschrieben hat. – Was in dem Roman mit Charlotte, Wilhelm und Hilde geschieht, sei hier an dieser Stelle nicht verraten.

Nur so viel: Eugen Ruge, der von der Zeit seiner Großeltern in Moskau nichts wusste, erläutert im Epilog seine Recherchen im Russischen Staatsarchiv. Dort findet er die Kaderakte seiner Großmutter Charlotte. Durch diese inspiriert, entwickelt er seine biografischen Fiktionen und seine Geschichte, „die eine Geschichte  darüber ist, was Menschen zu glauben bereit sind, zu glauben imstande sind.“

Eine Geschichte, die in der Wirklichkeit der Stalin-Ära verankert ist, einer Zeit, in der Millionen angebliche Verräter oder Agenten erschossen oder in den GULAG verbracht werden. Ermöglicht durch den unbeirrten Glauben an eine Idee – derweil die Wirklichkeit von einem System beherrscht wird, das auf Misstrauen, Angst und Falschinformation gründet und in dem Denunziation, Verleumdung und Opportunismus gedeihen.

Eine Geschichte, die von zeitloser Aktualität ist.

(Wenn Sie Lust haben, suchen Sie doch für unsere Diskussion „Ihren“ Satz zur jetzigen Zeit in diesem Roman.)

Rita Thies