dtv Verlag München 2020 (Französisches Original 2018)
Die in Brüssel 1982 geborene und dort lebende Schauspielerin Adeline Dieudonné hat in Frankreich mit ihrem Debut „Das wirkliche Leben“ einen fulminanten Start als Autorin hingelegt. Sie stand monatelang auf der Bestsellerliste und wurde zudem mit Preisen überhäuft.
Die Wucht des Werkes gleich zu Anfang: „Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.“
Die Kadaver sind das ausgestopfte Großwild, das der Vater gejagt und erlegt hat. Ein brutaler Typ, der nicht nur Tiere, sondern auch die Mutter zum ständigen Opfer seiner gewalttätigen Triumphe macht. Das Mädchen, das seine Familiengeschichte über fünf Jahre hinweg erzählt, ist zu Beginn 10 Jahre alt, ihr Bruder 6. Sie wachsen in einem Klima der gnadenlosen Aggressivität und Grausamkeit ohne irgendwelche Zuwendung auf, aber die Kleine hat sich vorgenommen, den jüngeren Bruder Gilles zu beschützen.
Ein furchtbarer, tödlicher Unfall, dem der Eiswagenverkäufer des Viertels erliegt, verursacht bei Gilles ein Trauma, das ihn völlig verändert und ihn zum Tierquäler werden lässt. Die Schwester gibt nicht auf, sie will ihn retten, mit der Konstruktion einer Zeitmaschine alles ungeschehen machen. Marie Curie ist ihr Vorbild, und die Kleine entwickelt sich zur Überfliegerin in der Physik. Zu etwas Besonderem, im Haushalt des Tyrannen selbstverständlich verboten. Deshalb sucht sie sich außerhalb der Familie erwachsene Freundinnen und Freunde, die sie unterstützen. Doch je älter sie wird, umso mehr wird auch sie vom Vater zur Jagdbeute auserkoren … doch sie kämpft weiter …
Dieudonné erzählt in ihrem Roman an vielen Stellen fast märchenhaft von der Selbstermächtigung eines Mädchens und ihrer psychischen Widerstandskraft. Gekonnt konfrontiert sie uns mit schonungslosen Bildern und setzt diesen eine Lebensenergie gegenüber, die Mut macht. Wer hat danach noch Angst …?
Rita Thies