Literaturforum am 28. Juni 2022

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden / Volker Widmann: Die Molche


Edgar Selge: Hast Du uns endlich gefunden, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021 (304 Seiten,24,- Euro)

Volker Widmann: Die Molche, DuMont Buchverlag, Köln 2022 (254 Seiten, 22,- Euro)

 

Mit „Hast Du uns endlich gefunden“ hat Edgar Selge einen autofiktionalen Roman über seine Kindheit geschrieben. Der Schauspieler, 1948 geboren, stellt sein 12-jähriges Ich in den Mittelpunkt und lässt es erzählen. Lediglich ab und an gibt sich das 73jährige Ich direkt zu erkennen.

Edgar wächst als zweitjüngster Sohn eines Gefängnisdirektors und einer mit ihrer Ehe nicht sehr glücklichen Mutter in Herford auf. Fünf Brüder wären sie eigentlich, aber sein Bruder Rainer ist kurze Zeit nach Edgars Geburt beim Spielen auf eine Handgranate gestoßen und durch diese umgekommen. Dieser Verlust ist in der Familie ständig gegenwärtig. Doch nicht nur dieser:  Die Eltern sind tief in nationalsozialistischen Denkmustern verhaftet und haben den sogenannten „Zusammenbruch“ nicht verarbeitet. So wird beim Musizieren und auf exzessiven Hauskonzerten einerseits die Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum demonstriert, gleichzeitig erfährt Edgar immer wieder brutale Gewalt durch seinen Vater. Die Lateinübung mit Letzterem ist Prügelstunde. „Du musst zuschlagen. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt in Ordnung bringen.“ Dabei kann der Junge es nicht begreifen: „Warum! Er! Mich! Schlägt!“ Und auch das erwachsene Ich kämpft immer noch mit seinen ambivalenten Gefühlen zu seinem Vater „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ Doch das verdrängte Erbe einer durch und durch brutalisierten Gesellschaft zeigt sich beim Vater zusätzlich in anderer Form…

Die Stütze für den Jungen sind seine zwei älteren Brüder, Martin und Werner. Sie sind es, die den Eltern „Kontra“ bieten, „den Muff von tausend Jahren“ beim Mittagessen vom Tisch blasen. Die Verbundenheit der Brüder untereinander webt das Zuhause, das sie stark macht. Das alles ist berührend, aber gekonnt ist, wie der Autor mit viel Humor und sprachlich dicht von den Gedanken und kleinen Abenteuern des phantasievollen Zwölfjährigen erzählt. Filmreif ist nicht allein die Szene, in der er einen Bombenangriff auf eine Großstadt vom Sitz im Birnbaum aus nachspielt und die Lieblingsfrüchte seines Vaters die Geschosse darstellen.

 

Volker Widmanns Roman „Die Molche“ spielt ebenfalls in der späten Nachkriegszeit, Ort des Geschehens ist ein fiktives bayrisches Dorf. Auch hier erzählt hauptsächlich ein Junge, der elfjährige Max. Hin und wieder ist Marga zu hören, ein gleichaltriges Mädchen.

Max ist mit seiner Familie erst vor Kurzem in das Dorf gezogen und ist auf der Suche nach Freunden. Doch vor Ort herrschen Tschernik und eine ihm ergebenen Bande, die Jüngeren oder Schwächeren das Leben zur Hölle machen. Gleich zu Anfang des Romans wird der jüngere Bruder von Max durch die Gruppe drangsaliert und ermordet. Die Kinder des Dorfes wissen das alle, doch die Erwachsenen wollen den Mord nicht wahrhaben. So wie man gelernt hat, die jüngere deutsche Geschichte zu verdrängen, wird auch die Tat als solche nicht wahrgenommen – der Kleine habe einen Herzfehler gehabt. Max‘ Mutter ist mit dem Haushalt beschäftigt, der Vater meist abwesend, weil er in der Stadt arbeitet und nur am Wochenende zuhause ist. Auch sein Erziehungsmittel – wie das fast aller Erwachsener in diesem Roman, so ist es leider üblich zu dieser Zeit – ist die Prügel.

Max findet nach und nach Freunde. Sie setzen sich gemeinsam gegen Tschernik und die Seinen zur Wehr, und die Geschichte entwickelt sich zu einer Emanzipationserzählung. Besonders daran sind Max Streifzüge durch die Natur und seine Beobachtungsgabe. Zudem verfolgt Widmann in der Entwicklung seines kleinen Gesellschaftspanoramas sehr anschaulich den Ansatz, aufzuzeigen, wie Gewalterfahrung, Demütigung und Verzweiflung neue Gewalt hervorrufen.

 

Beide Romane sind übrigens Debüts.

Rita Thies