Literaturforum am 29. März 2022 – via Zoom!

Eva Menasse: Dunkelblum


Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturforums, aufgrund der hohen 7-Tage-Inzidenz von über 1500 in Wiesbaden habe ich mich kurzfristig dafür entschieden, das Literaturforum noch einmal via Zoom durchzuführen. Denn mit Maske lässt sich schlecht diskutieren. – Anforderung des Links für diejenigen, die nicht im Verteiler sind, unter literaturforum.wiesbaden@online.de

Eva Menasse: Dunkelblum (Roman). Köln, 2021

Anmerkung: Diesmal steht nur ein Roman zur Debatte, da das Werk 523 Seiten umfasst.

„Dunkelblum“, so nennt Eva Menasse die fiktive Kleinst(!)stadt im Burgenland nahe der ungarischen Grenze, den Handlungsort des Romans. Gleich zu Anfang gibt die Autorin den Erzählton vor, mit dem sie sich diesem und seiner Bevölkerung nähert:

„Jedes Mal, wenn Gott von oben in diese Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel aufgebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter den Vorhängen stehen und hinausspähen. Manchmal, oft, stehen auch zwei oder drei im selben Haus an den Fenstern, in verschiedenen Räumen und voreinander verborgen. Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.“

Diese humoristische Subversion, manchmal ausgesprochen bitter, durchweht das 523 Seiten starke Werk. Es ist Menasse Weg, über das Miteinander einer Gesellschaft zu schreiben, in der ein barbarisches Verbrechen über Jahrzehnte unter einer Betondecke des Schweigens verschwindet.

Im Sommer 1989 sammeln sich nicht weit von Dunkelblum entfernt auf der ungarischen Seite der Grenze die ersten DDR-Flüchtlinge. Gleichzeitig quartiert sich ein Unbekannter in der Stadt ein und stellt Fragen zur Vergangenheit. Auch die jungen Leute aus Wien, die plötzlich auftauchen und sich der Herrichtung des verwahrlosten Jüdischen Friedhofs widmen, provozieren bei manchen Dunkelblumern Reaktionen. Und diejenigen im Ort, die an der Heimatchronik schreiben, stoßen plötzlich auf Geschichten, die sie nicht glauben wollen. Dann verschwindet die junge, engagierte Flocke Malnitz, die Überreste eines Menschen werden am Ortsrand durch Zufall ausgegraben… Schließlich taucht die Hauptstadtpresse auf, die Welt schaut mit Abscheu auf den Ort, in dem die, die es noch wissen könnten, ein Massaker und seine Folgen verdrängen. Dies Massaker wird in dem Roman nicht im Detail geschildert, aber das Geschehen erschließt sich in den verschiedenen Rückblenden nach und nach.

Eva Menasse fiktionalisiert den brutalen Mord an 180 jüdischen Zwangsarbeitern in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs im österreichischen Rechnitz. In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 feierten dort SS-Leute mit der Gräfin Margit Batthyány-Thyssen in ihrem Schloss ein Fest und berauschten sich zwischendurch an dem Massenmord. Die Hauptverantwortlichen konnten nie zur Rechenschaft gezogen werden, zwei Zeugen wurden vor dem Prozess ermordet und die Überreste der Opfer wurden bislang nicht gefunden. –

Sie habe „keinen historischen Roman schreiben wollen, sondern eine paradigmatische Menschheitsgeschichte“, so Eva Menasse in einem Interview in Deutschlandfunk Kultur (18.8.21) Dafür hat sie ein immenses Figurenensemble entwickelt. Haupt- und Nebenfiguren, deren Handlungen und Gedanken sie mittels eines auktorialen Erzählers abwechselnd in den einzelnen Kapiteln nachspürt. Das gestaltet sie sehr lebensnah – aber sind das unverwechselbare Figuren, die sich weiterentwickeln? Führt nicht das Nebeneinander der vielen Geschichten und der unterschiedlichen Beweggründe der Einzelnen für ihr Handeln dazu, ein wenig „alles“ zu verstehen? – Es ist ein sehr gnädiger Gott, der da in die Dunkelblumer Herzen schaut.

Rita Thies